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Vorübergehend tot

Vorübergehend tot

Titel: Vorübergehend tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlaine Harris
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dringend hätten gegossen werden müssen. Ich klopfte.
    Dann wartete ich ein oder zwei Minuten. Daraufhin klopfte ich noch einmal.
    „Brauchst du Hilfe, Sookie?“ Die Stimme, die das gerufen hatte, kam mir bekannt vor, also drehte ich mich um, schirmte meine Augen mit der Hand gegen das grelle Morgenlicht ab und sah nach, wer es war. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand Rene neben seinem Pick-up, den er vor einem der kleinen Holzhäuser geparkt hatte, aus denen diese Nachbarschaft zum größten Teil bestand.
    „Ich weiß nicht“, hob ich an, nicht sicher, ob ich Hilfe brauchen würde oder nicht und ob Rene letztlich in der Lage wäre, mir zu helfen. ,Hast du Dawn gesehen? Sie ist heute nicht zur Arbeit erschienen, und gestern hat sie sich auch schon nicht sehen lassen. Sam hat mich gebeten, bei ihr vorbeizufahren und nach dem Rechten zu sehen.“
    „Sam? Der sollte seine Drecksarbeit lieber selbst machen“, meinte Rene, was mich perverserweise dazu veranlaßte, meinen Chef zu verteidigen.
    „Sam hat heute morgen eine größere Lieferung erhalten, die abgeladen werden mußte“, erklärte ich, wandte mich dann wieder um und klopfte noch einmal an Dawns Tür. „Dawn?“ rief ich dazu. „Komm! Laß mich rein!“ Dann sah ich mir die Veranda an. Seit zwei Tagen flogen die Kiefernpollen und hatten Dawns Veranda mit einem gelben Film überzogen. Die einzigen Fußspuren waren meine. Meine Kopfhaut fing an zu jucken.
    Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, daß Rene immer noch unschlüssig an der Tür seines Pick-up stand und nicht recht wußte, ob er nun losfahren sollte oder nicht.
    Dawns Doppelhaus war einstöckig und ziemlich klein; die Tür zur anderen Hälfte befand sich fast direkt neben Dawns eigener Eingangstür. Die kleine Auffahrt des Nachbarhauses war jedoch leer, und in den Fenstern nebenan hingen keine Gardinen. Es sah aus, als hätte Dawn vorübergehend keine Nachbarn. Dawns Hausfrauenstolz hatte sie in ihrer Wohnung Gardinen aufhängen lassen, weiße mit altgoldenen Blumen. Die waren auch zugezogen, aber aus dünnem Stoff gefertigt und ohne Saum, so daß ich durch sie hindurch ins Wohnzimmer schauen konnte. Außerdem hatte Dawn ihre billigen Aluminiumrollos nicht heruntergelassen. Was ich sah, ließ darauf schließen, daß Dawn sich ihre Wohnzimmerausstattung ausnahmslos auf dem Flohmarkt besorgt hatte. Auf dem Tischchen neben einem klobigen Lehnsessel stand eine Kaffeetasse. Eine alte Couch mit einer selbstgehäkelten Sofadecke darauf war gegen die Wand geschoben.
    „Ich sehe mal hinten nach“, rief ich Rene zu, der daraufhin die Straße überquerte, als hätte er nur auf mein Signal gewartet, und auf die vordere Veranda trat. Meine Füße streiften staubiges Gras, das die Pollen ganz gelb gefärbt hatten, und ich wußte, ich würde mir gründlich die Schuhe abbürsten und eventuell neue Strümpfe anziehen müssen, ehe ich zur Arbeit gehen konnte. Wenn die Kiefernpollen fliegen, wird einfach alles gelb: Autos, Pflanzen, Dächer, Fenster - über allem liegt dieser dünne goldene Schleier. Teiche und Pfützen zeigen an den Rändern gelbe Ablagerungen.
    Dawns Badezimmerfenster befand sich in einer derart diskreten Höhe, daß ich nicht hindurchsehen konnte. Im Schlafzimmer hatte sie die Rollos heruntergelassen, allerdings nicht ganz, so daß ich durch die Zwischenräume zwischen den einzelnen Lamellen spähen konnte. Dawn lag auf dem Bett, auf dem Rücken. Um sie herum wild durcheinander das Bettzeug. Sie hatte die Beine gespreizt. Ihr Gesicht war geschwollen und hatte sich verfärbt, und die Zunge hing ihr aus dem Mund. Auf ihren Lippen krochen Fliegen herum.
    Ich konnte hören, wie Rene hinter mich trat.
    „Geh und ruf die Polizei an“, befahl ich ihm.
    „Was ist? Hast du sie gesehen?“
    „Geh und ruf die Polizei an!“
    „Schon gut, schon gut!“ Hastig trat Rene den Rückzug an.
    Ich hatte nicht gewollt, daß Rene Dawn in diesem Zustand sah - aus irgendeinem Gefühl für weibliche Solidarität heraus. Niemand sollte meine Kollegin ohne ihre Zustimmung so sehen - aber sie war wohl kaum mehr in der Lage, diese Zustimmung zu erteilen.
    Ich stand mit dem Rücken zum Fenster und war schrecklich versucht, noch einmal ganz genau durch die Lamellen der Jalousie zu spähen, in der verzweifelten Hoffnung, vielleicht beim ersten Mal einen Fehler gemacht zu haben. Ich starrte auf das Doppelhaus neben dem Dawns, das höchstens zwei Meter entfernt stand, und fragte mich, wie dessen Bewohner es

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