Vorübergehend tot
Existenz), war ich Zeugin sexueller Akte geworden, die sich eigentlich strikt im Privaten hätten zutragen sollen, hatte meinen potentiellen Liebsten in den Fängen von Blutlust erlebt (mit der Betonung auf Lust), und ein sterbenskranker Strichjunge hatte mich fast mit bloßen Händen erwürgt.
Das alles stand mir noch einmal in aller Deutlichkeit vor Augen, und von daher erteilte ich mir selbst höchst offiziell die Erlaubnis zum Heulen. Ich setzte mich auf, weinte und wischte mir dann das Gesicht mit dem Taschentuch, das Bill mir reichte. Beim Anblick dieses Taschentuchs fragte ich mich kurz, wozu ein Vampir so etwas brauchte _ ein kleines Aufflackern von Normalität, das aber sofort von einer nervösen Tränenflut erstickt wurde.
Bill war klug genug, mich nicht in die Arme zu nehmen. Er saß auf dem Fußboden und besaß genügend Feingefühl, seine Augen abzuwenden, als ich mich trockenrieb.
„Wenn Vampire zusammen in Nestern hausen“, sagte er unvermittelt, „werden sie oft immer grausamer und grausamer, weil sie sich gegenseitig anspornen. Ständig sind sie von anderen ihresgleichen umgeben, was sie ständig daran erinnert, wie weit sie von jeglicher menschlichen Existenz entfernt sind. Vampire wie ich, die allein existieren, besinnen sich dagegen öfter einmal darauf, daß sie selbst einstmals Menschen waren.“
Ich hörte seiner leisen Stimme zu, die langsam seine Gedanken sammelte, während er versuchte, mir das Unerklärliche zu erklären.
„Sookie, unser Leben besteht darin, zu verführen und zuzugreifen, was für manche von uns seit Jahrhunderten so ist. Die Tatsache, daß es jetzt synthetisches Blut gibt und die Menschen uns widerwillig akzeptieren, ändert dies nicht von einem auf den anderen Tag - auch innerhalb von zehn Jahren nicht. Diane und Malcolm und Liam sind seit fünfzig Jahren zusammen.“
„Wie schön“, sagte ich, und meine Stimme klang, wie ich sie noch nie gehört hatte: bitter. „Das war dann also ihre goldene Hochzeit.“
„Kannst du die Sache nicht einfach vergessen?“ fragte Bill. Seine riesigen dunklen Augen kamen immer näher. Sein Mund war nur Zentimeter von meinem entfernt.
„Ich weiß nicht“. Die Worte sprudelten aus mir heraus. „Weißt du, daß ich noch nicht einmal gewußt habe, ob du es tun kannst?“
Bills Augenbrauen hoben sich fragend: „Was tun ...“
„Ihn ...“ Dann verstummte ich und überlegte, wie ich es auf nette Art und Weise formulieren konnte. Ich hatte an diesem Abend mehr Geschmacklosigkeiten gesehen als sonst in meinem ganzen Leben, denen ich nicht noch eine weitere hinzufügen wollte. „Eine Erektion bekommen“, sagte ich dann, wobei ich es vermied, Bill in die Augen zu sehen.
„Na, nun weißt du es.“ Bill klang, als koste es ihn Mühe, nicht belustigt zu wirken. „Wir können uns lieben, aber wir können keine Kinder zusammen zeugen oder bekommen. Fühlst du dich nicht ein wenig besser bei dem Gedanken, daß Diane kein Baby haben kann?“
Da brannten bei mir alle Sicherungen durch. Ich schlug die Augen auf und blickte Bill unverwandt an: „Mach - dich - nicht - lustig - über - mich.“
„Ach Sookie!“ sagte er daraufhin, und seine Hand streichelte sanft meine Wange.
Ich wich der Hand aus und kam mühsam auf die Beine. Bill half mir nicht, was auch gut so war, aber er saß auf dem Boden und sah mir zu, keine Miene verzogen, mit einem Gesicht, auf dem sich nichts ablesen ließ. Seine Fangzähne waren wieder eingefahren, aber ich wußte, daß er immer noch Hunger litt. Na, damit würde er leben müssen!
Meine Handtasche lag auf dem Boden neben der Vordertür. Ich war zwar nicht sicher auf den Beinen, aber gehen konnte ich. Den Zettel, auf dem ich Namen und Telefonnummern der Elektriker notiert hatte, zog ich aus der Tasche und legte sie ihn den Tisch.
„Ich muß gehen.“
Plötzlich stand er vor mir. Wieder hatte er eine dieser Vampirnummern abgezogen. „Darf ich dir einen Abschiedskuß geben?“ fragte er. Seine Arme hingen locker herab, als wolle er mir eindeutig zu verstehen geben, daß er mich nur anfassen würde, wenn ich ihm grünes Licht gab.
„Nein!“ sagte ich vehement. „Nach denen da kann ich das jetzt nicht vertragen!“
„Ich komme dich besuchen.“
„Ja. Vielleicht.“
Er langte an mir vorbei, um die Tür zu öffnen, aber ich dachte, er wolle nach mir greifen und zuckte zusammen.
Ich machte auf dem Absatz kehrt und rannte fast zu meinen Auto, wobei ich erneut vor lauter Tränen kaum etwas sah.
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