Vorübergehend tot
Ich war froh über meinen kurzen Nachhauseweg.
Kapitel 3
Das Telefon klingelte. Ich zog mir das Kissen über den Kopf. Oma würde bestimmt drangehen, oder? Aber das lästige Läuten wollte und wollte nicht verstummen, und so mußte ich letztlich davon ausgehen, daß meine Großmutter einkaufen gegangen war oder draußen im Garten arbeitete. Es gelang mir, die Augen soweit zu öffnen, daß ich das Telefon auf meinem Nachttisch erkennen konnte, weshalb ich mich, wenn auch ungern, in mein Schicksal ergab. Mein Kopf schmerzte zum Zerplatzen, und ich empfand das tiefe Bedauern, das oft mit einem schlimmen Kater einhergeht - wobei mein Kater emotional und nicht alkoholbedingt war. In dieser Verfassung befand ich mich also, als ich eine zittrige Hand nach dem Telefonhörer ausstreckte.
„Ja?“ stieß ich mit piepsiger Stimme hervor, räusperte mich und versuchte es noch einmal: „Hallo?“
„Sookie?“
„Am Apparat. Sam?“
„Ja. Hör mal, Schatz, tust du mir einen Gefallen?“
„Was für einen?“ Ich war heute ohnehin zur Arbeit eingeteilt und wollte keinesfalls zusätzlich auch noch Dawns Schicht übernehmen.
„Könntest du bitte bei Dawn vorbeifahren und nachsehen, was mit ihr ist? Sie geht nicht ans Telefon, und hier ist sie noch nicht aufgetaucht. Ich habe gerade eine große Lieferung bekommen und muß den Jungs, die den Lastwagen abladen, zeigen, wo sie mit den Sachen hin sollen.“
„Jetzt? Du willst, daß ich jetzt gleich bei Dawn vorbeifahre?“ Nie war mir mein altes Bett verlockender erschienen.
„Geht das?“ Sam fiel wohl gerade erst auf, daß ich anders reagierte als sonst. Noch nie hatte ich es abgelehnt, Sam einen Gefallen zu tun.
„Na gut“, murmelte ich und fühlte mich beim bloßen Gedanken an den Auftrag zutiefst erschöpft. „Wird schon gehen.“ Mir lag nicht gerade besonders viel an Dawn, und Dawn lag nicht besonders viel an mir. Sie war der festen Überzeugung, ich hätte ihre Gedanken gelesen und Jason eine Sache erzählt, die sie über ihn gedacht hatte, und deswegen hätte mein Bruder die Beziehung mit ihr beendet. Mal ehrlich:
Wenn ich wirklich solches Interesse für Jasons Liebesangelegenheiten aufbrächte, käme ich weder zum Schlafen noch zum Essen!
Ich duschte, um mir dann langsam und ein wenig träge die Arbeitskleidung anzuziehen. All mein Schwung war dahin, und ich fühlte mich wie Mineralwasser in einer Flasche, die man zu oft geschüttelt und dann unverschlossen stehen gelassen hat. Ich aß eine Schale Müsli und putzte mir die Zähne, und nachdem es mir gelungen war, meine Großmutter ausfindig zu machen, sagte ich ihr, wohin ich gehen würde. Oma war im Garten, wo sie eine alte Badewanne, die neben der Hintertür stand, mit Petunien bepflanzte. Sie schien nicht zu verstehen, was ich ihr durch die Tür zurief, aber sie lächelte trotzdem und winkte mir zum Abschied fröhlich zu. Oma schien jede Woche etwas schwerhöriger zu werden, aber darüber durfte man sich wohl nicht groß wundern, denn immerhin war sie bereits achtundsiebzig Jahre alt. Da grenzte es fast an ein Wunder, daß sie immer noch so gesund und stark und blitzgescheit war.
Auf meinem lästigen Botengang dachte ich darüber nach, wie schwer es für meine Großmutter gewesen sein mußte, zwei weitere Kinder aufzuziehen, nachdem sie doch bereits für ihre eigenen hatte sorgen müssen. Als mein Vater, Großmutters Sohn, starb, waren Jason und ich zehn bzw. sieben Jahre alt gewesen. Als ich dreiundzwanzig Jahre alt war, starb Omas Tochter, Tante Linda, an Blasenkrebs. Hadley, Tante Lindas Tochter, war bereits vor dem Tod ihrer Mutter im Dunstkreis der Subkultur untergetaucht, aus der auch die Rattrays stammten, und wir wußten bis zu diesem Tage nicht, ob Hadley überhaupt ahnte, daß ihre Mutter nicht mehr lebte. Das alles hatte meiner Oma viel Kummer bereitet, aber sie war immer stark geblieben, unseretwegen.
Durch die Windschutzscheibe hindurch blickte ich auf die drei kleinen Doppelhäuser auf der einen Seite der Berry Street. Die Berry Street gehörte zu den zwei oder drei heruntergekommenen Straßenzügen, die sich hinter dem ältesten Teil der Innenstadt von Bon Temps hinziehen, und Dawn lebte in einer der Doppelhaushälften hier. Ich erkannte ihren Wagen, ein kleines, kompaktes Fahrzeug in der Auffahrt eines Hauses, das ein wenig besser gepflegt wirkte als die anderen, und parkte direkt dahinter. Dawn hatte einen Hängekorb an ihrer Tür bereits mit Begonien bepflanzt, die
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