Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
Stelle bereits sehr abgegriffen war und kaum noch Haare hatte. Plötzlich erschien er ihr weit weniger mächtig. Er war ein ebenso schwaches menschliches Wesen wie sie selbst.
»Die Zukunft«, wiederholte er. »Ja, deshalb konnte ich nicht zusehen, wie Rabenjäger stirbt. Obwohl er den Tod verdient hätte.«
Ihr Argwohn kehrte zurück. Aufmerksam musterte sie ihn. »Wegen der Verstümmelungen und Vergeltungsmaßnahmen?«
Der kühle Ton ihrer Stimme ließ ihn aufhorchen. Er wollte ihr unbedingt in die Augen sehen.
Kopfschüttelnd antwortete er: »Für das, was er ist.« Er machte eine Pause. »Laß mich überlegen, wie ich es am besten erklären kann.« Seine Hände formten Gestalten. »Ein Mann, oder meinetwegen auch eine Frau, besteht aus Körper und Seele. Einverstanden?«
Sie nickte bestätigend.
»Der Körper kann Mängel aufweisen. Vielleicht wird ein Kind ohne Finger geboren. Vielleicht ist es nicht kräftig genug, um die Kälte zu überleben. Oder es hustet und stirbt. Möglicherweise ist es eine Totgeburt.« Er lehnte sich zurück und suchte nach den richtigen Worten. »Mit der Seele ist es dasselbe. Was Rabenjäger betrifft, so fehlt ihm etwas. Er ist besessen von sich selbst, besessen von der Macht. Erschwerend kommt hinzu, daß er hin und wieder flüchtige Visionen hat von dem, was sein könnte. Aber er besitzt nicht die Fähigkeit, diesen Bereich seiner Seele zu pflegen und zu teilen.
Verstehst du, was ich meine?«
»Zu teilen«, grübelte sie laut.
»Ja«, flüsterte er. Die unzähligen Falten in seinem Gesicht kräuselten sich. »Eine gesunde Seele kann sich ausdehnen, sich in die Lage anderer Geschöpfe versetzen und deren Erfahrungen teilen. Daraus entsteht Weisheit. Das habe ich vor langer Zeit gelernt.« Mit tieftraurigen Augen starrte er in das Feuer. »Aber Rabenjäger kennt kein Mitleid, kein Mitgefühl. Ihm fehlt die Ausdehnung, das Teilen der Seele mit anderen.«
Sie beugte sich zu ihm hinüber und berührte zart seine Schulter. Ihre Blicke trafen sich. »Hast du ihn deshalb gerettet?«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Nur aus Mitleid? Nein. Das nun auch wieder nicht.« Vorsichtig blickte er sich um. Singender Wolf schlief tief und fest. Sein Gesicht war völlig entspannt, und er schnarchte leise. »Vielleicht bin ich ein ebenso großes Ungeheuer wie Rabenjäger. Ich verschaffte ihm nämlich die Gelegenheit zum Diebstahl des Weißen Fells.«
Sie fuhr zusammen. »Du hast ihm geholfen, das Fell zu stehlen?«
Eisfeuer zuckte die Achseln. »Der Raub diente mir als Mittel zum Zweck.« Ein verschwörerisches Licht glitzerte in seinen Augen. Er winkte sie zu sich heran und senkte die Stimme zu einem Flüstern. Sie rückte näher, um ihn besser zu verstehen. »Du darfst mit niemandem darüber sprechen. Nicht mit deinen Leuten und schon gar nicht mit meinen. Ich habe gesehen, wohin mein Sohn Wolfsträumer geht. Ich kenne die Zukunft eures Volkes im Süden. Und ich weiß, wir waren vor sehr langer Zeit ein einziges Volk. Nach dem Tod meiner Frau veränderte sich mein Leben. Ich habe sie von ganzem Herzen geliebt. Als sie von mir gegangen ist, verließ ich das Lager. Einfach so, ohne konkreten Grund. Männer, die einen tiefen Schmerz in sich fühlen, machen zuweilen seltsame Dinge.
Damals stand das Lager am Ufer des Salzwassers. Von dort war das südliche Meer nur einen Monatsmarsch entfernt. Inzwischen ist dieser Lagerplatz vom Wasser überspült und längst unter den Fluten begraben. Irgend etwas trieb mich die Küste entlang nach Osten.«
»Irgend etwas trieb dich?«
»In der Nacht peinigten mich Träume. Meine Frau füllte die Träume aus, aber ich spürte auch die Gegenwart einer anderen Frau. Wie meine Seele weinte auch die ihre über den Verlust eines geliebten Menschen.« Prüfend sah er sie an. »Ich weiß nicht, ob du mich verstehst, aber ich glaubte, es sei eine Geistfrau sie habe den Platz meiner Frau eingenommen.« Er schluckte unsicher. »Eines Tages erwachte ich. Der Traum war sehr mächtig. Ich ging in Trance und hörte eine Stimme eine mächtige Stimme. Sie berührte mich zutiefst. Zum erstenmal seit dem Tod meiner Frau spürte ich Verlangen.
Und dann sah ich sie. Sie war wunderschön.« Er richtete sich auf und strich liebevoll über Tanzende Füchsins langes Haar. Sein Blick drückte größte Verehrung aus. Bewundernd streichelte er ihr Gesicht.
»Ich wußte, es war die Frau aus dem Traum. Ich … ich verfolgte sie. Ich hatte Angst, sie würde plötzlich im Nebel
Weitere Kostenlose Bücher