Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
ihm überallhin, beobachtend, neugierig, was er jetzt wohl als nächstes tun würde.
Unruhe.
Träumen war unmöglich.
»Du hast es mir prophezeit, Reiher. Aber ich hätte nie gedacht, daß es so schwer sein würde.«
Er stand auf und schritt hin und her. Schnee stob unter dem Saum seines Umhangs auf, den er Großvater Eisbär vor so langer Zeit, damals im Eis, vom dampfenden Leib gezogen hatte. Er kauerte sich nieder, nahm die heißen Steine vom Feuer und gebrauchte sie auf dieselbe Weise wie eine Mutter, die die Decken für ihr Kind anwärmte. Er zog sich die Decke über den Kopf, nahm eine Handvoll Schnee und besprengte die Steine mit den weißen Kristallen.
Zischender, warmer Dampf stieg auf und kräuselte sich über seinem Kopf. Sicher, es war nicht Reihers Höhle, aber sein Geist wurde frei. Entspannt wartete er auf das Gefühl des Großen Einen. Der Dampf verflüchtigte sich. Erneut warf er Schnee auf die Steine. Er atmete tief ein, fühlte die Verkrampfung und die Unruhe von sich abfallen. Es gelang ihm, den Geysir zu spüren. Er konnte seinen Geist reinigen. Er konnte träumen.
Sein Bewußtsein dehnte sich über alle Grenzen aus. Er fühlte die dunkle Gegenwart in seiner Nähe.
Plötzlich hämmerte sein Herz. Seit Monaten wußte er, der Konflikt rückte unerbittlich näher. Er kam aus dem Norden.
Er hüllte sich völlig in das Eisbärfell ein. Dampf erfüllte die schützende Zuflucht unter dem Fell und streichelte sein Gesicht. In der feuchten Dunkelheit bewegten sich peinigende Bilder.
KAPITEL 64
In der endlosen Dunkelheit stürzte Rabenjäger über einen fast hüfthohen Felsbrocken. Dabei schlug er sich den Kopf auf. Der rasende Schmerz in seinem verletzten Arm raubte ihm kurz das Bewußtsein. Er fühlte sich entsetzlich krank. Bunte Lichter wirbelten vor seinen Augen. Er blieb ermattet liegen. Das Gewicht des Weißen Fells nagelte seinen verwundeten Arm geradezu am Boden fest. Seine keuchenden Lungen stachen bei jedem Atemzug. Dazu kam nun noch der Schmerz am Kopf, den er sich am Fels aufgeschlagen hatte.
»Muß weiter«, japste er. »Macht steckt im Fell. Mir gehört die Macht. Muß weiter.«
Mit der Hand seines gesunden Armes tastete er über den Felsblock. Er mußte die Größe des Hindernisses abschätzen. Anschließend zerrte er das schwere Fell darüber hinweg. Da er dabei nur seinen guten Arm gebrauchen konnte, fiel es ihm unendlich schwer.
Unter Aufbietung seiner letzten Kräfte wuchtete er das Fell wieder auf die Schulter. Seine Knie gaben nach, die Beine zitterten. Schritt für Schritt tastete er sich stolpernd weiter, völlig allein mit den im Eis ächzenden und stöhnenden Geistern. Scharfkantige Steine schnitten durch die Sohlen seiner alten Stiefel. Durch die Löcher in den Sohlen drang Eiseskälte und machte seine Füße gefühllos.
Umgeben von schwärzester Dunkelheit ging er Schritt für Schritt vorwärts, stets gebückt, damit er sich an überhängendem Eis nicht den Kopf aufschlug.
Er rieb seine Wange an dem Weißen Fell, um dessen Kraft in sich aufzunehmen. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich an diese Kraft und saugte sie ein. Seinen Lederbeutel hatte er längst zerschnitten.
Nun besaß er nur noch einen schmalen Lederstreifen, auf dem er herumkauen konnte.
Immer weiter schleppte er sich voran. Einzig die Aussicht auf eine glorreiche Zukunft, auf die Macht, hielt ihn noch aufrecht. Sobald das Volk das Weiße Fell sah, gehörte ihm die Macht. Die Menschen warteten auf ihn und auf das Weiße Fell. Irgendwo da vorn, jenseits der Dunkelheit, warteten sie sehnsüchtig auf ihn.
Die Berge leuchteten blauviolett in der Dämmerung. Die letzten Sterne blinkten am südlichen Horizont. Vor ihnen erhob sich schemenhaft das Große Eis eine gewaltige weiße Wand, geisterhaft unfaßbar im weichen Licht. Windfrau peitschte den Schnee von den Gipfeln und griff mit langen kalten Fingern nach den Menschen, die sich um ein kleines Feuer zusammenkauerten. Sie wickelten sich eng in ihre Decken und starrten auf die kristallene, kalte Öde.
Singender Wolf hielt sich ein wenig abseits. Grübelnd lehnte er an einem Felsen, der vom steilen Abhang herabgestürzt war. Er war fast die ganze Nacht wach geblieben und hatte nachgedacht, obwohl Nachdenken nicht gerade seine Stärke war. Sein Blick fiel auf Eisfeuers Zelt. Unwillkürlich zuckte er zusammen. Das Zelt stand inmitten des Lagers. Der Frost hatte es völlig mit Reif und Eis überzogen. Seit einer Woche ging Tanzende Füchsin jede Nacht in
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