Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
hörten, deine Krieger müssen töten, um Ehre zu beweisen. Habt ihr euch so sehr verändert, seit ich deine Krieger zurückgeschickt habe?«
Er starrte auf den Schnee, der sich zu seinen Füßen häufte. »Vielleicht ist es weniger eine Veränderung, als vielmehr eine Rückkehr zu alten Werten.«
»Das begreife ich nicht.«
»Wir waren ursprünglich ein Volk. Hat dir Reiher nichts dar über gesagt? Hätten meine Großväter die deinen nicht gefürchtet, unsere Lenden wären miteinander verbunden geblieben. Unsere Clans würden heute das Fleisch an einem wärmenden Feuer miteinander teilen.« Er verstummte. Seine Augen blickten verträumt in die Ferne. »Wären die magischen Kräfte nicht eingeschritten, dann hätte es vielleicht diese Jahre des Krieges und des Raubes nie gegeben.«
Aufmerksam beobachtete sie ihn. »Du scheinst dich mit magischen Kräften sehr gut auszukennen.«
Die Furchen um seinen Mund vertieften sich. »Magische Kräfte bedeuten Macht. Wie man sie nutzt und was daraus entsteht , hängt von den Gefühlen der Menschen ab, die sie einsetzen. Manche setzen ihre Macht für die Ziele des Guten ein. Manche sehen nur das Böse. Ich bedaure die Ausübung meiner Macht in einigen Fällen und möchte das wiedergutmachen.«
Sie nickte. Sein Ernst nötigte ihr Respekt ab. Seine demütige Haltung imponierte ihr. »Du und deine Leute, ihr seid so weit heraufgestiegen, um uns das mitzuteilen?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir kamen wegen etwas, das uns gehört, und das sich in eurem Besitz befindet.«
»Das Weiße Fell?«
»Ja.«
Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Sie war auf der Hut. »Einer unserer Leute hat das Fell. Sein Name ist Rabenjäger. Er ist ein Ausgestoßener.«
»Wir kennen ihn. Wir wollten ihn zu Tode martern, weil er unsere Verwandten brutal gefoltert hat.
Aber er entkam und stahl unser größtes Heiligtum, das Weiße Fell. Wir müssen es zurückholen.
Vielleicht gelingt es uns, zu einer alle Seiten befriedigenden Einigung zu kommen. Vielleicht können wir verschiedene Ziele auf einmal erreichen. Erklärt ihr, du und deine Krieger, euch mit einem Waffenstillstand einverstanden? Wollt ihr uns ebenso bereitwillig zuhören wie wir euch?«
Sie überlegte fieberhaft, in welche Falle er sie locken könnte. »Viel Leid wurde uns auferlegt. Viele Menschen meines Volkes schreien nach dem Blut der Anderen. Sie dürsten nach Rache.«
Von oben ertönte ein zustimmendes Grunzen, obwohl sie strikten Befehl gegeben hatte, zu schweigen.
Eisfeuer mußte es gehört haben, aber seine Miene blieb unverändert. »Es wird nicht ganz leicht sein«, gab er offen zu. »Was den Weißen-Stoßzahn-Clan betrifft, so haben viele Familien unter eurer Grausamkeit gelitten. Mein Sänger wünscht sogar den Tod deines ganzen Volkes.« Mit einem wehmütigen Lächeln sah er sie an. »Ist das nicht eine weitere Gemeinsamkeit, die uns verbindet?«
Sie konnte ein Kichern nicht unterdrücken, riß sich aber schnell wieder zusammen.
Er zwinkerte ihr zu. Seine Augen spiegelten freundliche Übereinstimmung. »Anführer mit Sinn für Humor kommen miteinander zurecht.«
Sie nickte. »Möglich. Wo sollen wir uns über die Einzelheiten unterhalten?«
Er deutete über die Schulter. »Ein Sturm kommt auf. Der Zustand deiner Kleidung sagt mir, daß ihr schwere Zeiten erlebt habt. Ihr hattet wenig Wild in der letzten Zeit. Wenn ihr uns erlaubt, auf eurem Land unser Lager aufzuschlagen, versorgen wir euch mit Zelten und Nahrung. Unsere Jäger hatten ein erfolgreiches Jahr. Vielleicht können wir auf diese Weise die Kluft, die unsere Völker trennt, bereits ein wenig schließen. Eventuell entsteht aus all dem Kummer und Leid sogar noch etwas Gutes.
Glaubst du, Sonnenvater würde ein Opfer von uns annehmen, als Zeichen unseres guten Willens?«
Sofort war ihr Mißtrauen geweckt. Er wollte den Göttern ihres Volkes ein Opfer bringen? Wo lag der schwache Punkt? Konnte sie diesem Mann, der ihr auf Anhieb sympathisch war, tatsächlich trauen? Er bot Nahrung und Unterkunft an. Viele Nächte hatten sie in ihren abgetragenen Mänteln gefroren.
Dicht zusammengedrängt, um das letzte bißchen Körperwärme zu teilen, hatten sie versucht, ein wenig zu schlafen.
»Ich muß mich mit meinen Kriegern beraten.«
Er nickte und breitete die Arme aus. »Du mußt sie rasch überzeugen. Überleg dir gute Argumente. Es sieht nach einem schweren Sturm aus. Wenn ihr euch schnell entscheidet, können wir höchstwahrscheinlich noch das
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