Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
Lederbeutel mit heißem Moostee zu bedienen.
Schließlich saßen alle zufrieden kauend um das Feuer. Die Medizinfrau erklärte: »Ein paar Wochen lang kann ich euch von meinen Vorräten abgeben. Aber danach …«
Singender Wolf nickte und füllte ein Hörn mit starkem schwarzem Tee. »Wieviel Wild gibt es hier?«
Reiher zog eine Schulter hoch. »Genug. Eine kleine Karibuherde überwintert in einer Senke weiter flußabwärts. Der Wind hält den Platz dort schneefrei. Die Tiere finden genügend Weidenschößlinge, Flechten und Gras. Anscheinend wächst dort das Gras von Jahr zu Jahr üppiger. Seit ich hier bin, hat sich in dieser Gegend eine Menge verändert. Mal sehen, was sich in der nächsten Zeit so alles tut. Ich bin ja schon lange hier. Als ich herkam, war Gebrochener Zweig noch jung genug, um mir meinen Mann wegzunehmen.«
Gebrochener Zweig setzte sich stocksteif hin und hörte mitten im Kauen auf. Ihre Augen verengten sich böse.
»Was das Jagen angeht«, räusperte sich Der der schreit, »schlage ich vor, wir teilen mehrere Treibergruppen ein. Grünes Wasser und Sonnenschein übernehmen die Flanken, und die Kinder bleiben zwischen den Felsen. Ihr treibt die Tiere, damit sie in Bewegung bleiben. Mit Singender Wolf, Hüpfender Hase und mir sind wir immerhin drei Männer, die …«
»Vier«, unterbrach ihn Reiher und machte eine Kopfbewegung zu Der im Licht läuft, der bisher noch kein Wort gesagt hatte, sondern mit gesenktem Kopf in der Runde saß.
Murren erhob sich. Kaum hatten die Leute ihre Bäuche gefüllt, jammerten sie wieder über die Ungerechtigkeit des Schicksals und schimpften Der im Licht läuft einen falschen Träumer.
Spöttisch zog Reiher die Augenbrauen hoch. »Ihr Narren. Er sieht mehr, als ihr je verstehen werdet.«
Verlegenes Schweigen breitete sich aus. Das Licht der Flammen flackerte über ihre angespannten Gesichter.
Der im Licht läuft ergriff das Wort. »Großmutter, laß gut sein. Ich …«
»Schweig, Junge. Du und ich, wir sind noch längst nicht fertig miteinander.« Sie nahm nicht die geringste Rücksicht auf seine Verlegenheit. »Du weißt immer noch nicht, wer und was du bist, eh?
Wenn du so weitermachst, wirst du es wohl nie erfahren.«
»Wolfstraum«, murmelte Gebrochener Zweig mit leuchtenden Augen.
Reiher legte den Kopf schief. »Du hast ihn gesehen?«
»In seinen Augen.«
Reiher nickte zufrieden. »Hat sich seit meinem Weggang viel verändert? Keine bedeutenden Träumer mehr?«
Gebrochener Zweig winkte verächtlich ab. »Früher hatte Krähenrufer echte Träume, aber mittlerweile nicht mehr. Diese jungen Leute da, die haben nie einen wirklichen Träumer kennengelernt. Du mußt zurückkommen, Reiher. Das Volk braucht dich. Ihm fehlt das Herz. Das Feuer. Die alten, wahrhaften Weisheiten sind verweht wie Rauch in Windfraus Atem.«
Reihers Zeigefinger deutete auf den einsam in der Runde sitzenden Mann. »Er ist die Zukunft.«
Wortlos schüttelte Wolfsträumer den Kopf. Er erhob sich und verschwand in der Nacht.
Ein langes Schweigen folgte, bis endlich Gebrochener Zweig kopfschüttelnd sagte: »Ich weiß nicht.
Die Kraft hat ihn verlassen.« Sie seufzte. »Ich kann die Vision in seinen Augen nicht mehr erkennen.«
»Du irrst dich.« Reiher grinste breit. »Wie immer.«
Singender Wolf räusperte sich laut. »Er ist zu jung. Sein Bruder Rabenjäger hat behauptet, er sähe ständig irgendwelche Dinge und neige von jeher zu Selbsttäuschungen.«
»Rabenjäger?« Reihers dürrer Finger stach nach Singender Wolf. »Du hörst auf ihn Ihre Augen wurden schmal vor Zorn. »Was ist los mit dir? Hat dir dieser madenzerfressene Krähenrufer den Kopf vernebelt? Verflucht seid ihr alle. Ohne Träume gibt es kein Leben!«
Mit trotzig vorgeschobenem Kinn erwiderte Singender Wolf: »Der im Licht läuft hat uns beinahe in den Tod geträumt.«
»Narren.« Angewidert schüttelte Reiher den Kopf. »Glaubt ihr, ihr seid nur zum Fressen auf der Welt? Ha? Euer einziger Daseinszweck ist essen und Kinder zeugen, glaubt ihr das? Verflucht sollt ihr sein! Kein Wunder, daß das Volk stirbt! Ihr müßt träumen, wenn ihr überleben wollt!«
»Ja!« rief Gebrochener Zweig und klatschte begeistert in die Hände. »Seht ihr?« Sie zeigte auf Reiher.
»Sie besitzt magische Kräfte! Sie ist eine Träumerin! Hört ihr, wie sie spricht? Hört ihr den Zauber?
Haheee! Der Wolf führte uns her. Wolfstraum!«
»Was ist mit dem Jungen, mit Wolfsträumer?« Reiher kreuzte die Arme vor der Brust.
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