Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
inzwischen gebrochen?« Nach kurzem Nachdenken fügte sie hinzu: »Sicher haben sich im Laufe der Zeit einige angesammelt.«
Zaghaft streckte Gebrochener Zweig die Hände nach den Sehnenbändern von Reihers Mantel aus.
Unbeholfen stolperte sie nach vorn, schlang ihre gebrechlichen alten Arme um Reiher und drückte sie an sich, als müsse sie ein Trugbild festhalten, das sich jeden Augenblick wieder verflüchtigen könnte.
»Ich dachte, du wärst längst tot.«
Reiher klopfte Gebrochener Zweig so liebevoll sie nur konnte auf den Rücken. »Bisher hatte ich noch keine Lust zum Sterben. Ich malte mir jahrelang unser Wiedersehen aus.«
Langsam wich Gebrochener Zweig zurück. Neugierig blickte sie in das ovale Gesicht der Medizinfrau.
Reihers einst sehr reizvolle Gesichtszüge waren immer noch fein geschnitten, ihre Lippen voll und die Nase frech nach oben gerichtet. »Du willst mich immer noch töten?«
Reiher holte tief Luft. Mit finsterem Gesicht sagte sie: »Nicht unbedingt. Es ist nicht mehr so wichtig wie früher.«
»Hast du deine Meinung wegen meiner Nase geändert?« »Hauptsächlich. Vielleicht gebe ich mich ja damit zufrieden, deine Gelenke zu verfluchen.«
»Das kannst du dir sparen. Das hat schon jemand anderer für dich erledigt. Im Winter kann ich mich kaum noch bewegen.« »Tatsächlich?«
Gebrochener Zweig nickte. Die alte Schuld fraß an ihr und verursachte ihr Herzbeschwerden. »Du weißt genau, ich wollte dir nie weh tun. Es war nur so, daß ich …«
»Oh …« Reiher schüttelte heftig den Kopf. »Du hast mir einen Gefallen erwiesen, wirklich. Ich hätte sonst nie den Mut aufgebracht, mich ganz den Träumen hinzugeben. Dazu bedurfte es einer tiefen Wunde.«
»Ich habe sie dir zugefügt, nicht wahr?« »Allerdings.«
»Nachdem du uns verlassen hattest, fühlte ich mich nie mehr richtig wohl. Eine große Leere breitete sich in mir aus.«
»Danach, sicher. Aber vorher hast du keinen Gedanken an mich verschwendet. Als es darauf ankam, war ich dir vollkommen gleichgültig!«
Gebrochener Zweigs Augen wurden schmal. »Natürlich. Ich konnte dich nicht ausstehen.«
»Weißt du, du warst auch nicht gerade liebenswert. Mit deiner scharfen Zunge hast du in dieser schrecklichen Zeit überall herumgetratscht. Ich..«
»Großmutter?« Roter Stern unterbrach das Gespräch. Schüchtern lugte sie aus der Höhlenöffnung heraus. »Komm und iß, sonst ist nichts mehr da.«
»Ich komme in einer Minute, Kind«, rief sie ihr über die Schulter zu.
Gebrochener Zweig schielte zu Reiher hinüber. Über das Gesicht der früheren Feindin glitt langsam ein Lächeln. Mit einem Augenzwinkern sagte sie barsch: »Komm mit mir. Ich habe genau das Richtige für deine Gelenke.«
»Was? Du willst eine Gesundbetung vornehmen? An mir?«
Kopfschüttelnd antwortete Reiher: »Nein, ich habe etwas viel Besseres für dich.«
»Was könnte denn …«
Entsetzt riß Gebrochener Zweig die Augen auf. Keuchend stieß sie hervor: »Du willst mir doch nicht etwa die Glieder abtrennen, oder?«
»Ich könnte, wenn ich wollte«, sagte Reiher milde lächelnd. Mit einer Handbewegung forderte sie Gebrochener Zweig auf, ihr auf die windumtoste Hochebene zu folgen, wo Der im Licht läuft bereits von den anderen umringt wurde. Alle waren aus ihren Eishöhlen gekrochen und hatten sich in unbändiger Freude um ihn versammelt. Sie umarmten ihn und versicherten ihm lautstark, nie auch nur im geringsten an ihm gezweifelt zu haben.
Gebrochener Zweig schürzte die Lippen und starrte hinunter auf die dünnen, sich wie Ranken um ihre Füße schlingenden Schneeformationen.
»Verflucht seist du«, flüsterte sie, den Blick unverwandt auf Reihers Rücken gerichtet. »Du bist die einzige unter den Träumern, an deren Macht ich je geglaubt habe.« Sofort bedauerte sie ihre Worte und fügte rasch hinzu: »Du und Der im Licht läuft.«
In diesem Augenblick hörte Reiher sie schreien: »Ich habe sie gefunden. Die alte Hexe kann man wohl nie mit gutem Gewissen sich selbst überlassen.«
Ein leises Glucksen drang aus Gebrochener Zweigs Kehle. Tief atmete sie die frische Luft ein. Zum erstenmal seit Tagen hielt sie sich außerhalb der Höhle auf. Die eisige Hochebene glitzerte wie mit Perlen besetzt. Die am Himmel dahinziehenden Wolken begannen zu leuchten. Ihre Ränder erstrahlten in schimmerndem Gold.
»Großmutter?« Roter Stern zupfte sie am Ärmel. »Ich habe dir etwas aufgehoben. Aber wenn du jetzt nicht gleich ißt, ist es weg, weil mein Magen
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