Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
»Das ist ein Gefühl wie beim Einschlafen. Du weißt schon, so ein sanftes Weggleiten. In der einen Minute bist du noch wach, und in der nächsten schläfst du.«
Roter Stern nickte. »Es tut wirklich nicht furchtbar weh?«
»Nein, Kind. Jedenfalls nicht lange.«
»Vielleicht dauert es nur eine Minute?«
»Oh, so lange dauert es nicht. Du merkst es kaum, so schnell geht es.«
Roter Stern stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus, steckte wieder den Finger in den Mund und rieb mit der anderen Hand das Bisamfellgesicht ihrer Puppe an ihrer juckenden Nase. »Ich habe mir deswegen große Sorgen gemacht.«
»Frag mich nur. Ich sage dir alles, was du wissen willst.« »Lachsflosse sagte, man hat lange Zeit so entsetzliche Schmerzen, daß man schreit und schreit, bis die Seelenesser kommen und einen holen.«
»Er ist doch erst sieben«, brummte sie. »Was weiß er denn schon?«
»Knochenwerfer war sein Onkel. Er sagte, nachdem ihn der Bär erwischt hat, hörte er ihn tagelang furchtbar stöhnen und schreien.«
»Pah! Knochenwerfer ging allen auf die Nerven. Wahrscheinlich hat er Großvater Eisbär Verdauungsprobleme beschert, das wird Lachsflosse gehört haben.«
Blinzelnd schielte Roter Stern auf die mit Fellen umwickelten Füße von Gebrochener Zweig. »Was geschieht danach?«
»Du meinst nach dem Tod?« Das Mädchen nickte. »Nun, dann wachst du auf und fliegst zwischen den Sternen umher. Du schwebst wie ein Adler.«
»Weil ich wieder zum Volk der Sterne gehöre?«
»Genau.«
Nachdenklich runzelte sie die Stirn.
»Großmutter, glaubst du wirklich, Der im Licht läuft hatte einen Großen Traum?«
»Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel, Mädchen. Ich habe Träumer gesehen richtige Große Träumer …« Ihre Stimme brach. In Gedanken versetzte sie sich zurück in die bittersüßen Tage vor fünfundzwanzig Jahren. »Richtige Träumer …«
Vom Höhleneingang her hörten sie Hundegebell und das raschelnde Geräusch gefrorener Felle. Roter Stern sprang auf und stieß einen kleinen Freudenschrei aus.
»Er ist zurück!« rief sie mit schriller Stimme und kroch auf die Öffnung zu. »Der im Licht läuft! Der im Licht läuft!«
Gebrochener Zweig schloß die Augen und richtete ein leises Dankgebet an den Wolf.
»Hallo«, hörte sie Roter Stern verwundert sagen. Offensichtlich kannte sie die Person nicht, die draußen stand.
»Bist du hungrig, Kleine?« fragte eine unbekannte Frauenstimme.
»O ja, mein Magen knurrt und stöhnt.«
»Hier. Iß, dann geht es dir gleich besser.«
»Danke!« Roter Stern schlüpfte zurück. Sie hielt ein großes Stück gefüllten Darm in der Hand.
An wen erinnert mich bloß diese Stimme… Sie löste Angst und Reue in ihr aus. Tränen standen in Gebrochener Zweigs Augen. Fast hätte sie laut geschluchzt, aber sie schluckte ihre Rührung energisch hinunter.
»Gebrochener Zweig?« fragte die rauhe Frauenstimme im Befehlston. »Bist du da drin?«
»Ja«, antwortete sie erschrocken. »Wer…«
»Komm raus, bevor ich reinkomme und dich hole.«
»Wer bist du?«
Als sie keine Antwort erhielt, warf Gebrochener Zweig nach kurzem Zögern die Decken beiseite und kroch auf Händen und Füßen hinüber zu der schmalen Öffnung. Im weißen Dunstschleier sah sie schemenhaft eine Gestalt mit Kapuze. Vom grellen Licht geblendet, kniff sie die Augen zusammen und richtete sich mühsam auf. Ihre schwachen, zittrigen Beine trugen sie kaum. Sie versuchte, das Gesicht unter der Karibukapuze zu erkennen, aber Windfraus eisiger Atem trieb ihr Tränen in die Augen und trübte ihren Blick.
»Verflucht will ich sein«, brummte die Frau. »Deine ach so wunderhübsche Nase! Jetzt ist sie so scharf und häßlich wie die Speerspitze von irgendeinem Jäger. Bei diesem Anblick geht es mir doch gleich viel besser.«
»Wer bist du?« fragte Gebrochener Zweig streng. »Kenne ich dich?«
»Du alte Hexe. Natürlich kennst du mich. Oder kannst du eine Frau vergessen, deren Herz du gebrochen hast?«
Gebrochener Zweig keuchte. Langsam dämmerte ihr, wen sie vor sich hatte. Ihre Hände flatterten unkontrolliert über den Schultern der Frau. Am liebsten hätte sie sie berührt, um sich zu vergewissern, daß sie wirklich aus Fleisch und Blut war. Schließlich gewann sie die Fassung zurück. Sie schlug eine Hand vor den Mund und starrte die Frau beklommen an. »Heiliges Volk der Sterne … du bist das.«
»Natürlich bin ich das«, brauste Reiher auf. »Die Herzen wie vieler Menschen hast du denn
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