Vorzeitsaga 02 - Das Volk des Feuers
und streckte einen schlanken Arm darunter heraus.
Die Finger ihrer schmalen, schlaff herunterhängenden Hand waren nach innen gekrümmt.
Strähnen ihres schimmernden schwarzen Haares lugten unter den Decken hervor.
Weißes Kalb saugte die schmalen Lippen an ihre zahnlosen Kiefer.
Das Mädchen strahlte eine ungeheure Sehnsucht und Kraft aus.
Merkwürdig, wie die Macht vorging. Tangara, das wilde Mädchen aus den Wäldern, die Jägerin, war auserwählt und in die Spirale gehoben worden.
Inzwischen loderte das Feuer. Während die Steine erhitzt wurden, schabte Weißes Kalb mit einem scharfen Hornsteinsplitter Trockenfleisch in den Kochsack. Anschließend fügte sie Wurzeln, Springkraut und die letzte ihrer kostbaren Zwiebeln hinzu. Ihren letzten kleinen Rest an Ephedra warf sie ebenfalls hinein. Tangara würde es brauchen.
Nun stieg sie über Tangara hinüber und inspizierte die an der Rückwand der Höhle lehnenden Gegenstände. Sie nahm ihren Atlatl und ihre sorgfältig gearbeiteten Speere und überprüfte die Waffen gewissenhaft nach Sprüngen und Rissen im Holz. Nachdem sie kontrolliert hatte, daß die Befiederung der Speere nicht von Nagetieren angefressen worden war, begutachtete sie die Verbindungsstellen der tödlichen Steinspitzen an den Schäften.
Sie schienen unversehrt. Gute Arbeit, eine der besten, die sie je vollbracht hatte. Die Spitzen hatte Drei Zehen angefertigt, der - mit dem handwerklichen Geschick der Leute aus den Ebenen - die herrlichsten Spitzen herstellte, die sie je gesehen hatte. Der Stein blitzte im Morgenlicht auf. Liebkosend strich sie über die Speere, lobpries sie, hob sie an die Lippen und hauchte einen Teil ihrer Seele in sie. Die Wurfgeschosse stellte sie zusammen mit dem Atlatl neben die beiden Speere, die Tangara gehörten.
Sie kehrte zum Feuer zurück. Mit ihren Herdstöcken holte sie die Steine aus den Kohlen und ließ sie in den Kochsack fallen.
Beim Zischen und Brutzeln des Wassers erwachte Tangara schlagartig und setzte sich auf. Verstört blickte sie sich in der Höhle um.
»Wir werden einen Happen essen. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit -aber vielleicht reicht sie aus.«
»Das hast du gestern schon gesagt.« Tangara kämmte sich mit ihren langen schlanken Fingern die üppigen schwarzen Haare.
»Gestern abend dachte ich das, heute morgen weiß ich es. Träume zogen über das Land.«
Tangara nickte und schloß die Augen.
Weißes Kalb war klar, welche Alpträume Tangara in der Nacht gehabt haben mußte. Sie nahm einen ihrer wunderschön geschnitzten Hornlöffel und tauchte ihn in die dampfende Brühe.
»Hier, Mädchen, iß. Iß, soviel du kannst. Du hast heute einen schweren Tag vor dir.«
Beim Aufstehen zuckte Tangara vor Schmerz zusammen. Jede Farbe wich aus ihrem Gesicht.
»Da, nimm das an dich. Kau es, wenn die Schmerzen zu stark werden.« Sie reichte der jungen Frau einen kleinen Beutel. »Darin ist ein Extrakt, den ich aus Weidenrinde herstelle. Man schält die Rinde ab, kocht sie, und nach dem Verdampfen des Wassers kratzt man die Rückstände heraus. Ein gutes Mittel gegen Schmerzen.
Weiden haben viele wundervolle Eigenschaften.«
Steifbeinig versuchte Tangara, ein paar Schritte zu gehen. Sie gab sich große Mühe, keine Miene zu verziehen und keinen Schmerz zu zeigen. Vorsichtig ließ sie sich nieder, nahm eine Schüssel und nippte behutsam an der dampfenden Flüssigkeit. Sie blickte auf.
»Du redest, als ob du genau wüßtest, daß heute etwas Besonderes geschieht.«
Weißes Kalb lächelte abwesend. »Ich träumte … träumte wie noch nie zuvor. Ich verstehe nicht alles, jedenfalls bis jetzt noch nicht. Aber ich habe das Wolfsbündel gehört. Es flüsterte in meinen Träumen.«
Mißtrauisch schielte Tangara aus den Augenwinkeln zu ihr hinüber.
»Aha, du zweifelst daran. Hat Blutbär euch Zweifeln gelehrt? Kein Wunder, daß Herz und Seele das Rothand-Volk verlassen haben. Das Wolfsbündel hat in meinem Traum geflüstert. Und ich träumte vom Ersten Mann. Ich sah ihn, leuchtend und herrlich. Lächelnd blickte er auf mich herunter, nachdem mir das Wolfsbündel die Botschaft überbracht hatte.«
Tangara leerte die Hornschüssel und ließ ihren Blick umherschweifen.
»Und was war das für eine Botschaft? Was will das Wolfsbündel von dir?«
Lächelnd stützte Weißes Kalb das Kinn auf die schwieligen Fäuste.
»Nicht von mir, Mädchen. Das Wolfsbündel wollte mit dir reden. Es sprach, sag Tangara, sie soll dem Träumer helfen.«
Sie schüttelte
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