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Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss

Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss

Titel: Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen O'Neal Gear , W. Michael Gear
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sagen.«
    Nachtschatten sog tief die Luft in ihre Lungen. Vor ihnen tauchte hoch und weiß die große Palisade auf. Die senkrecht stehenden Pfähle, mit Lehm bestrichen und im Feuer gehärtet, reckten sich als fünfundzwanzig Hand hohe Wand gegen den Himmel. Sie schützten die Zeremonienstätten und die Häuser der Sonnengeborenen, Sternen-geborenen und anderen Eliten. Hinter den mit Kriegern bemannten Schießplattformen ragten die abgeflachten, vierkantigen Hügel in den sich rötenden Himmel. Unverwandt ruhte ihr Blick auf dem höchsten Hügel. Der darauf erbaute riesige prachtvolle Tempel schien Vater Himmels Bauch aufzuschlitzen. Das eindrucksvolle Gebäude ließ selbst den hohen Geisterpfahl mit dem Abbild des Vogelmanns winzig erscheinen. Dort oben wartete Tharon auf sie, gekleidet in seine prächtigsten Gewänder und herausgeputzt mit einem herrlichen Kopfschmuck.
    Das riesige Tempelgebäude erstreckte sich über ein Quadrat von tausend Hand und ragte hundert Hand hoch. Schon konnte sie die geschnitzten Abbilder von Adler, Hirsch und Klapperschlange erkennen. Der rötliche Schimmer der Abenddämmerung leckte wie Feuerzungen über die das Grasdach und die Wände des monumentalen Gebäudes zierenden Kupferamulette. Die herkömmlichen Kupferbrocken, gegen Hackenblätter aus Hornstein beim Seenvolk im Norden eingetauscht, wurden von Tharons Metallbearbeitern zu dünnen Platten gehämmert und zu fein ziselierten Kunstwerken und Schmuck verarbeitet.
    Der gewaltige Hügel mit dem überwältigenden Tempelgebäude raubte den Menschen den Atem. Alle Macht der Welt schien hier versammelt. Wieder sah Nachtschatten den Tempel mit den Augen des Mädchens, das sie vor zwanzig Zyklen gewesen war. Entsetzen packte sie. O Binse, was ist mit mir geschehen? Mein Blut ist geschwächt wie das einer alten Frau. Anscheinend kann ich ohne dich nichts und niemandem die Stirn bieten.
    Sie schloß fest die Augen und versuchte, sich Mut zuzusprechen.
    Als sie wieder aufblickte, begegnete sie Dachsschwanz' neugierigem Seitenblick. Wußte er, was in ihr vorging? Konnte er sich vorstellen, welche Qual es für sie bedeutete, diesen Weg zum zweiten Mal in ihrem Leben als Gefangene zurücklegen zu müssen?
    Er hängte die Kriegskeule wieder an seinen Gürtel und gab den Wachen auf der Plattform über dem Tor ein Zeichen, zu öffnen. Während die Männer eilfertig davon hasteten, nahm Dachsschwanz Nachtschattens Arm und geleitete sie nach vorn. Rasch bildeten seine Krieger einen halbmondförmigen Kreis um sie. Die Menge drängte sich so dicht wie möglich heran. Aufgeregtes Gemurmel erhob sich. Die Leute stellten sich auf die Zehenspitzen. Alle wollten einen Blick auf den von der Palisade umschlossenen heiligen Ort erhaschen die meisten in der Hoffnung, den Sonnenhäuptling in Person zu sehen.
    Mit einem dumpfen Schlag glitt das Tor aus Baumstämmen zurück und gab den Blick auf einen L-förmig angelegten Zugangsweg frei. Dachsschwanz klemmte das Bündel mit Jenos' Kopf unter seinen linken Arm, schob Nachtschatten durch den Eingang und wartete, bis die Krieger das Tor wieder geschlossen hatten. Die Schönheit der Anlage linderte das Leid seiner Seele. Wie hellgrüne Säume zogen sich herrliche Gärten an den Sockeln der Hügel entlang. Rauchsäulen, rötlich gesprenkelt vom flackernden Schein der Kochfeuer, kräuselten sich in den abendlichen Himmel.
    Nachtschatten schüttelte Dachsschwanz' fest zupackende Hand ab. Erstaunt blickte er sie an. Ihre Augen schienen ihn zu verschlingen, ihn in dunkle, beängstigende Tiefen zu ziehen. Er konnte ihrem Blick nicht länger standhalten und sah zum Torwächter.
    »Südwind, wie stehen die Dinge hier?«
    Der kleine, stämmige Krieger, dessen sauberes Kriegshemd mit dem Gesicht eines Fuchses auf der Brust ihm bis zu den Knien hing, zuckte die Schultern. »So gut, wie man es nach den Vorfällen der letzten Woche erwarten kann. Die Leute sind meist ängstlich in den Häusern geblieben.«
    Dachsschwanz nickte ernst. Die furchtsame Stimmung der Bewohner von Cahokia war deutlich spürbar.
    »Wo ist Häuptling Große Sonne?«
    »Im Tempel«, flüsterte Nachtschatten.
    Südwind erbleichte und griff nach seinem Messer. »Im im Tempel, Dachsschwanz. Er zog es vor, oben auf dich zu warten.«
    Dachsschwanz nickte Südwind mit gespielter Sicherheit zu. »Ich danke dir, mein Freund. Geh wieder auf deinen Posten. Wir reden morgen weiter.« Er sah Nachtschatten an. Sie stand regungslos da und starrte wie gebannt auf die

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