Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
Cahokia verbracht. Wie würdest du dich fühlen, wenn du nicht einmal hundert Hand von deinem Haus entfernt die Hände in einen Fluß tauchen könntest? Er kennt die Außenwelt nicht. Er ist eingesperrt. Er ist ebenso ein Gefangener der Großen Sonne wie die Sternenungeheuer.«
»Alles schön und gut«, meinte Rotluchs spöttisch, »aber wenn er weiterhin nichts von der Außenwelt erfährt, vernichtet dieser Schwachsinnige noch unser Volk. Und die heilige Mondjungfrau weiß, daß er nie wieder heiraten wird. Welche Frau würde eine Ehe mit ihm eingehen? Und wenn er nicht mehr heiraten kann, wird Cahokia von der Welt gänzlich abgeschnitten.«
Dachsschwanz nickte düster. »Ich weiß.«
»Er ist bei den anderen Sonnengeborenen verhaßt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie seine Stammesältesten je eine Verbindung mit einer Tochter der Sonnengeborenen zustande bringen sollen.
Und du, mein lieber Bruder, du unterstützt noch Tharons Schwächen. Nach jedem Kampfgang bringst du ihm kleine Geschenke. Damit hilfst du ihm überhaupt nicht.«
»Wir brauchen den Häuptling auf unserer Seite. Tharon wird nicht ewig bleiben, aber wir gefährden das Häuptlingtum, wenn wir nicht «
»Wir können alle nur beten, daß Tharon nicht ewig bleibt. Je eher er geht, desto besser.«
Bei diesem scharfen Ton wandte Dachsschwanz den Kopf. Rotluchs hielt seinem Blick nur kurz stand, dann sah er beschämt zur Seite. Rotluchs, vor zwei Monden erst achtundzwanzig geworden, sah viel älter aus. Die tiefen Falten in den Augenwinkeln verliehen seinem gut geschnittenen ovalen Gesicht einen gewissen Ernst - im Unterschied zu Dachsschwanz, dessen Krötengesicht immer albern zu grinsen schien, auch wenn er ernsthaft dreinschaute.
Wie sein Bruder Rotluchs hatte auch Dachsschwanz Muschelperlen in die Stirnhaare geflochten. Ihre Schädel waren bis auf einen borstigen Kamm in der Mitte kahl rasiert. Nußgroße Ohrspulen aus Kupfer, ein Zeichen von Reichtum und Ansehen, steckten in den geweiteten Ohrläppchen, und ihre Körper schmückten zahlreiche Tätowierungen. Über Dachsschwanz' Wangen zogen sich die Konturen blauer Spinnen; Brust, Arme und Beine waren von schwarzblau verschlungenen Linien bedeckt. Er trug ein Kriegshemd in leuchtenden Farben, von Cahokias Meisterwebern gewebt und gefärbt. Schwere Halsbänder mit erlesenen Muschelperlen, die Insignien seines schwer erarbeiteten Ranges, schlangen sich um seinen Hals.
Rotluchs' Stirn zierten rote konzentrische Vierecke. Auf seinem Kriegshemd war das Symbol seiner persönlichen Macht zu sehen: das rote Abbild eines zähnefletschenden Wolfes. Halbverhüllt von dem schönen Stoff, blitzte der Halskragen aus Seemuscheln mit darin eingeflochtenen Spechtköpfen hervor, dem Zeichen des Specht-Krieger-Stammes.
Dachsschwanz strich mit den Händen über seine Brust. Sacht liebkoste er das grüne Bildnis eines Falken. Die davon ausstrahlende Kraft ließ seine Fingerspitzen prickeln. »Ich kann den Befehl nicht verweigern, Rotluchs. Was soll ich deiner Meinung nach tun? Soll ich einen Umsturz unterstützen - und den Zorn des Häuptlings Große Sonne auf uns alle ziehen?«
»Nein, Bruder. Du sollst deine Sachen packen und nach diesem Kampfgang mit mir weggehen.
Mondsamen ist bestimmt damit einverstanden. Sie ist eine gehorsame Frau. Wir können es schaffen, Dachsschwanz! Dann müßte keiner von uns jemals wieder den Befehlen dieses Narren gehorchen.«
»Wohin sollen wir denn gehen?« fragte Dachsschwanz mit düsterer Stimme.
»Irgendwohin. Der Ort spielt keine Rolle.«
Sollte Kerans großes Erbe auf diese Weise auseinanderfallen? Dachsschwanz' muskulöse Hände umklammerten das Holz des Paddels. Keran, Tharons legendärer Großvater, hatte die kleinen Häuptlingtümer mit Klugheit und List, diplomatischem Geschick, Tauschhandel, wohlüberlegten Eheschließungen und natürlich mit Hilfe des Specht-Stammes - den Elitekriegern, zu denen nur die Nachkommen einer Verbindung von Nichtadeligen mit den Sonnengeborenen gehörten, Männer wie Dachsschwanz und Rotluchs - zusammengeschweißt. Keran war es gelungen, mit Neid und Mißgunst fertig zu werden. Er machte Cahokia zum Mittelpunkt seines Machtbereichs. Von Cahokia aus herrschte er nicht nur über den Vater der Wasser, sondern auch über die Mutter der Wasser und die Flüsse der Mondwasser. In den meisten Fällen war es Keran gelungen, die anderen Hügeldörfer durch gutes Zureden, Drohungen, Bestechung oder Schmeicheleien in seinen Bund
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