Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
kauerte hinter einem Kalksteinfelsen und spähte vorsichtig um die Ecke. Sie beobachtete Wanderer, der über ein im letzten Zyklus abgeerntetes gelbbraunes Maisfeld ging. Plötzlich stieß er einen schrillen Pfiff aus, der wie der Triumphschrei eines Falken klang, wenn er ein Backenhörnchen erbeutet hat. Umsichtig, Schritt für Schritt ging Wanderer weiter und schlug mit einem Stock auf die Überreste der Stengel ein.
Sommermädchen, überraschend aus ihrem neun Monde dauernden Schlummer erwacht, sandte schlaftrunken ihren warmen Atem über das Land. Das für diesen Mond außergewöhnlich schöne Wetter dauerte nun schon drei herrliche Tage. Flechte wandte ihr Gesicht der Sonne zu und genoß die Wärme des hellen Glanzes. Schweißtropfen liefen ihr kühl von den Achselhöhlen über die nackte Haut und benetzten den Bund ihres gelben Rockes. Damit ihr die Wärme bis in die Knochen drang, lief sie seit dem Vortag mit nacktem Oberkörper herum.
Keine einzige Wolke zierte Vater Sonnes Brust. Ein endloses hellblaues Tuch wölbte sich über die Welt, senkte sich in die Täler zwischen den Bergkuppen und zeichnete die spärlichen Baumgruppen auf den Bergrücken als dunkle Silhouetten. Unten an den Ufern des Flusses sproß ein hauchdünner Flaum zarten Grüns. Die Erste Frau hatte wieder begonnen, sich um das Land zu kümmern.
Lächelnd sog Flechte tief die feuchte, nach Erde riechende Luft in ihre Lungen. Plötzlich verharrte sie regungslos. Sie hatte aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung im Maisfeld wahrgenommen -nur das leichte Zittern einiger Blätter, wo alles hätte ruhig sein müssen. Langsam hob sie ihren Bogen, legte einen Pfeil in die Kerbe und zielte.
Pfeifend ging Wanderer unbeirrt weiter. Die grauen Haare umwogten sein Gesicht wie reifbedecktes Gras. Er trug nur einen Lendenschurz, und sein schlaksiger Körper sah nach diesem langen Winter kränklich aus. Flechte wurde nicht recht schlau aus seinem Verhalten. Tiefe Sorgenfalten furchten seine Stirn und fraßen sich in seine ausgemergelten Wangen. Ständig blickte er ängstlich über die Schulter, als werde sich jeden Moment ein Ungeheuer aus den Rissen des verwitterten Kalksteins schleichen und über ihn herfallen. Seit ihrer Ankunft hatte er kaum ein Wort gesprochen; er hatte sie nur gefragt, ob sie ihm bei der Jagd auf etwas Eßbares helfen wolle. Geistesabwesend hatte er ihr das Versteck zwischen den Felsen zugewiesen, ihr zerstreut den Kopf getätschelt und sich auf die Suche nach einem Stock gemacht.
Zwei Raben schwangen sich vom Rand der Klippe in die Luft, ihre nachtschwarzen Flügel blitzten in der Sonne. Wanderer blickte auf, winkte ihnen zu und stieß einen tiefen Laut aus.
Einer der Raben flog zu ihm und kreiste über seinem Kopf. Einige Sekunden lang unterhielten sie sich, dann flog der Rabe über das Maisfeld davon. Als der glänzende Vogel den Rand des Feldes erreichte, brach ein Wildkaninchen zwischen den Stengeln hervor und lief genau auf Flechte zu.
Rasch schwenkte sie den Bogen herum. Das Kaninchen bemerkte die Bewegung, schlug einen Haken und hüpfte zwischen die Stoppeln der dürren Halme. Fast versteckt in dem gelbbraunen Gestrüpp verharrte es. Rasch schlüpfte Flechte wieder hinter den Felsen und legte sich auf den Bauch. Sie robbte über den warmen Kalkstein näher an das Kaninchen heran. Der schnelle, keuchende Atem des Kaninchens ließ seine Flanken zittern. Langsam hob Flechte den Bogen und zielte auf ihr Opfer. Das Kaninchen schien zu wissen, was ihm bevorstand. Es warf den Kopf zurück und starrte sie voller Angst durch die Halme hindurch an.
Flechte wagte kaum zu atmen. Wie immer schien ihr dieser quälende Moment des Augenkontakts ewig zu dauern. Sie fühlte das Entsetzen und die Verwirrung des Kaninchens. Wie gelähmt blickte es in ihre Augen und wartete auf ihre erste Bewegung.
Flechte fühlte das vor Todesangst heftig pochende Herz des Kaninchens im engen Gefängnis seiner Brust. Tiefer Kummer ergriff sie. Sie versprach, gut zu zielen, und flehte um Vergebung. Das Kaninchen hoppelte auf den grauen öden Stein hinaus, in die Schutzlosigkeit, und Flechte ließ ihren Pfeil davonschnellen. Als er das Herz des Kaninchens durchbohrte, spürte sie ihn wie einen Dolch in ihrer eigenen Seele. Sie brach in Tränen aus. Unsicher erhob sie sich und ging zu dem Kaninchen hinüber.
Als der Körper des Tieres erschlaffte und der Glanz des Lebens aus seinen Augen wich, kniete Flechte nieder und strich liebkosend über das seidige
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