Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
die blutbesudelten Hände im Sand ab und ging zu dem Stein hinüber, auf dem der abgetrennte Kopf lag.
Flechte stellte sich auf die linke Seite des Kopfes, den Platz von Großmutter Morgenstern, und Wanderer auf die rechte Seite, auf den Platz von Großvater Abendstern. Gemeinsam erschufen sie durch Gebärden die in den Himmel führende Straße des Lichts, damit das Kaninchen in das jenseits des Horizonts im Westen liegende Land der Ahnen gelangen konnte. Menschenwesen mußten die Reise auf dem Dunklen Fluß wagen, Tiere dagegen durften auf der leuchtenden Straße des Lichts gehen.
Flechte blinzelte zu einer Wolke hinauf, die sich über dem Fluß zusammenballte, und schloß die Augen. Die Worte des heiligen Liedes stiegen aus den Tiefen ihrer Seele empor, schwebten um die Höhle und wogten wie ein Schleier über den Klippenrand. Wanderers tiefe Stimme fiel in ihre hohe Kinderstimme ein.
Sieh dort, Bruder Kaninchen, die Leben spendende Straße des Erdenschöpfers.
Wir beten, das Große Kaninchen im Himmel möge deine Seele fliegen lassen,
deine Hände nach dem Sternennebel greifen lassen
und dich über den westlichen Horizont hinausfuhren
zum Haus von Vater Sonne,
wo du nie wieder Hunger leiden wirst,
wo es immer warm ist und wo du niemals im Schnee frieren mußt.
Wir danken dir, Bruder, daß du dein Leben für uns gegeben hast,
damit das allumfassende Leben im Großen Einen ohne Unterbrechung bestehenbleibt.
Komm, Großes Kaninchen im Himmel, komm, komm, komm.
Lasse die Seele deines Bruder fliegen.
Wir spenden dir unseren Atem, um dir Kraft zu verleihen. Komm, Großes Kaninchen im Himmel, komm, komm, komm …
Flechte schnüffelte unter Tränen, aber ihr war ein wenig wohler zumute. Sie sah die Seele des Kaninchens emporsteigen und über die Straße des Lichts laufen. Begütigend legte ihr Wanderer eine Hand auf den Rücken und führte sie zurück zu seiner Höhle.
Dort ließ sie sich auf den Boden nieder, lehnte sich an die Außenwand und sah ihm zu, wie er mit dem Wildkirschenholz, das eine besonders starke Hitze entwickelte, ein Feuer in Gang brachte. Flammen prasselten, und Funken stoben in verschwenderisch goldenen Girlanden auf. Wanderer warf Steine auf die knisternden Zweige und holte anschließend einen Dreifuß aus Weidenholz aus seiner Höhle.
Behutsam spießte er das Kaninchen auf einen Wildkirschenstecken, der dem Fleisch ein äußerst wohlschmeckendes Aroma verlieh, und legte es zum Braten oben auf den Dreifuß. Nach getaner Arbeit ließ er sich neben Flechte nieder und musterte sie mit einem fragenden Blick.
Sie kannte Wanderer gut genug, um zu wissen, daß er sie nicht zum Reden drängen würde. Geduldig lehnte er sich an die Wand und faltete die schwieligen Hände im Schoß. Flechte schöpfte etwas Sand in die Hand, ließ ihn durch die Finger rieseln und konzentrierte sich völlig auf die glitzernden Körner.
Endlich brach sie das Schweigen. »Wanderer, warum weine ich, wenn ich töten muß?«
Ernst sah er sie an. »Oh, ich glaube, weil es für dich keinen Unterschied zwischen Jäger und Gejagtem gibt. Ich empfinde genauso.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Nun, jeder gute Jäger nimmt die Seele des Tieres in sich auf, bevor er es tötet. Was empfindest du, wenn sich das Tier umdreht und dir während der Pirsch zum erstenmal in die Augen blickt?«
»Ich fühle seine Angst und Verwirrung.«
»Genau. Erinnerst du dich, was Vogelmann bei seinem ersten Besuch zu dir gesagt hat? Damals warst du erst vier Sommer alt.«
»Was denn?«
»Daß zu Anbeginn der Zeit Menschenwesen und Tiere ein Leben teilten. Tiere konnten, wenn sie wollten, Menschenwesen sein, und Menschenwesen konnten Tiere sein.«
»Ja, sicher - aber was hat das mit der Jagd zu tun?«
Wanderer zerrte einen Wildkirschenzweig aus dem noch verbliebenen Haufen, biß einen schmalen Streifen Rinde ab und kaute nachdenklich. »Die meisten Menschen können das mit dem Tier geteilte Leben nur noch bei der Jagd empfinden. In dem Moment, in dem die Augen des räuberischen Menschen dem Blick des Opfers begegnen, tauschen beide ihre Seelen aus. Aus diesem Grund stirbt ein Teil der Seele des Jägers mit dem Tier, sobald er es tötet. Und das ist auch richtig so, denn er hat etwas Schreckliches getan. Etwas Notwendiges, aber Schreckliches.«
»Warum müssen wir töten, Wanderer? Wir könnten uns doch von Pflanzen ernähren wie das Rotwild.«
Sacht strich er sich mit dem Zweig über die Wangen. Sein sonst wild abstehendes graues Haar
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