Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
ich davon halten soll.«
»Hast du Grüne Esche von diesen Träumen erzählt?«
»Ich wollte sie nicht noch mehr beunruhigen, sie ängstigt sich schon genug.«
Heuschrecke runzelte die Stirn. Vage erinnerte sie sich an etwas, das Dachsschwanz ihr erzählt hatte. Als er Nachtschatten geraubt hatte, hatte er im Verbotenen Land etwas gesehen. Was war es nur gewesen? »Was hält Winterbeere davon? Sie hat bei Dutzenden von Geburten geholfen. Macht sie sich Sorgen?«
Primel veränderte seine Lage und setzte sich bequemer hin. »Seit sie Nachtschatten gesehen hat, verhält sie sich sonderbar. Ich glaube, sie hat einen Schock erlitten.«
Heuschrecke hatte die alten Geschichten über die Todesfälle in Winterbeeres Familie während des ersten Zyklus, in dem sie sich um Nachtschatten gekümmert hatte, oft gehört. Sie machten an den Winterfeuern der Stämme regelmäßig die Runde. »Glaubst du, sie hat Angst, Nachtschatten könnte sie wieder verhexen oder dem Blaudecken-Stamm neuen Schaden zufügen?«
»Ja. Diese Angst scheint ihren Geist verwirrt zu haben. Sie sitzt da, starrt ins Nichts und murmelt vor sich hin. Sie prophezeit schreckliche Dinge für die Zukunft: Hungersnöte, Überschwemmungen und Krieg. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Grüne Esche jedenfalls fürchtet sich sehr.« Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: »Ich habe heute Gerede gehört, das mich ängstigt.«
»Was?«
Primel legte sich neben sie und schmiegte seine Stirn an die Biegung ihres Halses. Er zögerte lange, als fürchte er sich vor ihrer Reaktion. Heuschrecke drängte ihn nicht.
»Versprichst du mir, nicht böse zu werden?« fragte Primel. »Du bist erst die zweite Nacht zu Hause, und ich könnte es nicht ertragen, wenn du einen Wutanfall bekämst.«
»Primel, sag mir, worum es geht. Ich bin viel zu müde, um wütend zu werden. Was ist los?«
»Als ich mit Grüne Esche von den Kürbisfeldern zurückkam, lungerten zwei Krieger bei den Palisaden herum. Sie unterhielten sich über Dachsschwanz.«
Er blickte ihr genau ins Gesicht, um zu sehen, ob der ihm wohlbekannte unheilverkündende Ausdruck in ihren Augen aufblitzte. Heuschrecke versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber ein heißer Strom durchflutete alarmierend ihre Brust. Was hatten diese Krieger gesagt?
»Und?« fragte sie rasch.
»Sie meinten, Dachsschwanz habe die Nerven verloren. Einer behauptete sogar, er habe Dachsschwanz weinen sehen. Er spottete über ihn und sagte, Cahokia brauche einen neuen Kriegsführer.«
Heuschrecke bemühte sich, ruhig und regelmäßig zu atmen. Aber durch ihre Adern begann feurige Wut zu pulsieren. »So, sagte er das?«
Wieder sah sie Dachsschwanz' Gesicht vor sich, als sein Blick auf Rotluchs' blutüberströmten Körper fiel. Tränen standen in seinen Augen. Die Erinnerung daran durchbohrte ihr Herz wie die Obsidianspitze einer Lanze. Entschlossen warf sie die Decken beiseite, erhob sich und kletterte die Leiter hinunter. Als ihre Füße den kalten Boden berührten, erschauerte sie.
Primel beeilte sich, ihr zu folgen. Er stand mit eindrucksvoll gewölbten Muskeln im schwachen Mondlicht, das durch das Fenster hereinfiel. Das rechteckige Haus maß fünfzehn mal zehn Hand. An der langen Südwand stapelten sich Reihen bunter Körbe, alle nach Größe und Form geordnet: oben die runden, darunter die viereckigen und dann die ovalen. Die beiden Regale an der Nordwand enthielten Kochtöpfe und Gefäße mit Gewürzen. Primel mußte den Bestand während ihrer Abwesenheit aufgefüllt haben. Der Wohlgeruch von getrocknetem Spinnenkraut und blauviolettem Ysop vermischte sich angenehm mit dem frischer Minze.
Primel verschränkte schützend die Arme vor seiner nackten Brust. Traurig sagte er: »Heuschrecke, bitte, ich wollte dich nicht aufregen. Ich dachte nur, du solltest wissen, was «
»Natürlich muß ich wissen, was hinter Dachsschwanz' Rücken über ihn geredet wird! Wer waren diese Krieger? Wie heißen sie?«
»Ich weiß es nicht. Es gibt so viele Krieger, ich kann nicht alle kennen.«
Heuschrecke blickte ihn in ohnmächtiger Wut an. In den stillen Tiefen seiner Augen entdeckte sie schmerzliches Verständnis und Zuneigung. Ihre Wangen röteten sich vor Scham.
»Tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe«, sagte sie leise. »Mein Zorn richtet sich nicht gegen dich.«
»Nein, ich ich weiß.«
Als sie versöhnlich die Arme ausstreckte, eilte Primel zu ihr und hielt sie fest. Er preßte seine Wange an ihr Haar, sein muskulöser
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