Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
senkte Flechtes Mutter unsicher die Augen. Sie schien Vorwürfe von Wanderer zu erwarten, weil sie selbst keinerlei Macht besaß. »Das Schlimmste aber sind die Gerüchte, auch Petaga sei verrückt geworden. Er war gestern in Hickory Mounds und redete irre. Er will, daß sämtliche Dörfer in der Umgebung ihre Streitkräfte vereinen und den Kampf gegen Tharon riskieren.
Dieses Vorhaben ist leichtsinnig. Selbst in unser kleines Redweed schickte er Boten und ließ fragen, ob wir uns ihm anschließen. Aber Tharon befehligt zu viele Krieger. Auch wenn wir anderen uns alle verbünden, glaube ich nicht «
»Wo ist Nachtschatten?«
»Ich hörte von einem Händler, sie sei gefangengenommen und nach Cahokia zurückgebracht worden.
Aber ich weiß nicht, ob es stimmt.«
Wanderer saß reglos da. Ohne zu blinzeln, blickte er ins Feuer; seine starren Augen sahen aus wie Spiegel aus Glimmer. »Tharon muß verrückt geworden sein, oder er sehnt seinen Tod herbei.«
Flehend streckte Flechtes Mutter ihm die Hände entgegen. »Was sollen wir tun, Wanderer? Für morgen ist eine Versammlung einberufen worden. Wir wollen darüber abstimmen, ob wir uns Petaga anschließen sollen oder nicht. Was meinst du?«
Er seufzte. »Wenn du mich in der Hoffnung fragst, ich hätte einen Traum gehabt, muß ich dich enttäuschen. Ich habe nichts geträumt. Ich wußte überhaupt nichts davon. Außer …« Er biß noch einmal in den Nußkuchen und kaute nachdenklich. »Nun, ich hörte Nachtschatten nach mir rufen. Es schien, als brauche sie Hilfe. Aber ich weiß nicht, wo sie ist, und wie sehr ich mich auch anstrenge, sie zu finden, es gelingt mir nicht. Es ist, als habe sie sich selbst verloren.
Ich habe keine Spur, auf der ich ihr folgen könnte.« Genußvoll aß er das Kuchenstück auf.
Flechtes Mutter erhob sich und ging vor dem Feuer auf und ab. Orangerote Lichter spielten auf ihren Haaren. »Na gut, ich danke dir jedenfalls. Solltest du einen Traum haben «
»Sage ich dir sofort Bescheid.«
»Dafür wäre ich dir dankbar.«
Wanderers Augen flackerten unruhig. Endlich gab er sich einen Ruck und sagte: »Da ist noch etwas, worüber ich mit dir sprechen möchte, Wühlmaus.«
»Was?«
»Es geht um Flechte. Weißt du, daß sie Träume hat? Sehr mächtige Träume.«
Bestürzt runzelte ihre Mutter die Stirn. Sie drehte sich um und starrte ihre Tochter an. Flechte schloß rasch die Augen, um ihrem gekränkten Blick nicht begegnen zu müssen. Sie fühlte sich gemein und schlecht. Zwar hatte sie des öfteren versucht, mit ihrer Mutter darüber zu reden, aber Wühlmaus machte sich entweder über ihre Träume lustig oder tat sie mit gleichgültigen Worten ab. Seither sprach sie nur noch mit Wanderer darüber. Er war der einzige Erwachsene, der ihr aufmerksam und voller Ernst zuhörte.
»Nein«, entgegnete ihre Mutter ruhig. »Mir gegenüber hat sie nichts dergleichen erwähnt. Was träumt sie denn?«
Wanderer preßte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Das spielt keine Rolle.
Entscheidend ist, daß sie inzwischen alt genug ist, um zu lernen, wie sie damit umgehen muß, und …
ich möchte sie gerne unterrichten.« Unsicher blickte er auf. »Erlaubst du es?«
»Nun, ich … ich weiß nicht. Ich muß darüber nachdenken.«
Wanderer stand auf und stellte sich dicht vor sie hin. »Jedesmal, wenn ich das von dir gehört habe, hieß das ,nein'. Sollte das wieder der Fall sein, sag es mir bitte gleich, Wühlmaus.«
»Wenn du versuchst, mich unter Druck zu setzen«, erwiderte Wühlmaus mit mühsam unterdrückter Heftigkeit, »dann lautet die Antwort allerdings nein!«
Wanderers Blick fiel auf Flechte, die völlig reglos dalag. In seinem runzligen Gesicht spiegelte sich eine weiche Zärtlichkeit, und in den Tiefen seiner Augen flammte Kummer auf, als sähe er in ihrer Zukunft etwas unerträglich Schreckliches.
»Wühlmaus«, flüsterte er, »gestehst du mir nicht einmal das Recht zu, sie zu lehren, wie sie glücklich sein kann? Du weißt, wenn sie nicht lernt, die Träume zu beherrschen, wird es ihr erbärmlich ergehen. Bald werden die Träume sie verfolgen.« Angesichts der unnachgiebigen Härte in der Miene ihrer Mutter fügte Wanderer hinzu: »Bitte, Wühlmaus. Du hast mir stets jedes Recht verweigert. Laß mich doch -«
»Sie ist meine Tochter, Wanderer. Was sie betrifft, hast du keinerlei Rechte.« Ablehnend verschränkte sie die Arme vor der Brust und wandte sich ab. »Bitte geh jetzt.«
Einen Moment lang schloß Wanderer
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