Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
unheilvoll anstarrten. Das Böse.
Tharons Kehle war trocken, er schluckte krampfhaft. Die Gespensterarmee, die ihm den Rücken frei gehalten hatte, war verschwunden.
An den Wänden tanzten die Schatten von Kessel, Drossellied und Rauhrinde wie riesenhafte Ungeheuer aus der Unterwelt und ragten drohend über seinem eigenen Schatten auf.
»Ihr. Ihr alle. Ihr versucht - ihr versucht, mich umzubringen!« Rauhrinde bewegte sich, und ihr Schatten sprang auf ihn zu. Vor Entsetzen geriet er ins Stolpern und schrie: »Nein!«, wirbelte herum und trieb die Spitze seines Herrscherstabs in Rauhrindes Brust.
Sie taumelte auf ihn zu, ihre Stirn schlug gegen seine Schulter. Tharon riß seinen blutbesudelten Herrscherstab aus ihrem Körper und schob sie von sich. Unter Kessels ersticktem Aufschrei sank Rauhrinde zu Boden - leise wie eine Feder, die auf ein Bett aus gelbbraunem Gras herniederschwebt.
Blut strömte aus ihrer Brust.
Tharon ging rückwärts, bis er an den Altarsockel stieß. Dort setzte er sich hin.
Merkwürdig. Seine Übelkeit war verschwunden.
Mit ruhiger Stimme sagte er: »Glaubt ihr, ich weiß nicht, daß ihr Idioten von Sternengeborenen versucht, meinen Tod zu träumen? Nun, wenn ihr in Zukunft von mir träumt, erinnert ihr euch am besten jedesmal daran, daß ich Bescheid weiß.«
Kessel schloß die Augen und unterdrückte mit zitternden Lippen ein Schluchzen. Tharon holte tief Luft, stand auf und ging durch den Raum.
»Bring diese Schweinerei in Ordnung, Kessel«, befahl er im Vorübergehen. Eine neue Kraft strömte durch seine Adern. Zuversichtlich ging er den Flur hinunter zu seiner Schlafkammer. Heute nacht schlafe ich sicher gut.
KAPITEL 10
Funkelndes Sternenlicht fiel auf die gelben Spinnen an der Wand über Wühlmaus' Kopf. Sie lag unter ihren Decken und lauschte den gestammelten Worten Flechtes, die im Schlaf zu Wanderer sprach.
Flechtes trostlose, tränenerstickte Stimme tat Wühlmaus in der Seele weh. Sie rollte sich auf die Seite und betrachtete nachdenklich ihre Tochter. Nur Flechtes Scheitel lugte unter der Bisonfelldecke hervor. Ihr langer Zopf fiel wie ein aus dem Sommerpelz eines Hermelins geflochtenes Lasso auf die Schilfmatte am Boden.
Flechte drehte sich wimmernd auf den Bauch. Ihre kleinen Hände krallten sich krampfhaft in die Decke. Ihre Haltung erweckte den Eindruck, als befände sie sich auf der Flucht vor etwas Grauenvollem.
Wühlmaus schlug die Decken zurück, stand auf und kniete neben ihrer Tochter nieder. Zärtlich legte sie eine Hand an ihre Wange. »Flechte!« rief sie leise. »Flechte, wach auf. Es ist alles gut. Flechte!«
»Mutter«, murmelte Flechte schlaftrunken.
»Ich bin da. Du bist in Sicherheit.«
Schläfrig setzte sich Flechte auf und schlang ihre Arme um Wühlmaus. »O Mutter, ich hatte einen furchtbaren Traum: Ein Mädchen ruft nach mir, und ich - ich weiß nicht, wer es ist. Und ich sah einen Mann, einen schrecklichen Mann …«
Völlig durcheinander vergrub sie ihr Gesicht in Wühlmaus' dunkler Haarfülle. Liebevoll streichelte diese Flechtes Rücken, flüsterte ihr beruhigend ins Ohr und fragte dann: »Was hast du sonst noch in deinem Traum gesehen?«
Flechte setzte zum Sprechen an, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Ich … es … kümmere dich nicht darum. Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken.«
Müde drückte Wühlmaus ihr Kinn an Flechtes Kopf; ihr sank das Herz. Flechte wollte ihr den Traum nicht erzählen, und sie wußte, warum. Wühlmaus fürchtete wirkliche Träume: sie hatte nie gelernt, damit umzugehen, und kämpfte gegen sie an. Wenn sie von solchen Träumen heimgesucht wurde - was selten vorkam - , beherrschten sie sie mit furchterregender Macht. Verzweifelt versuchte sie, Flechte vor diesem Erbe zu schützen, und hielt sie von allem, was mit Träumen zu tun hatte, fern.
Flechte löste sich aus Wühlmaus' Umarmung. Still ließ sie sich auf ihr Bett sinken, zog die Decke über die Schultern, und als unübersehbares Zeichen, daß sie auf keinen Fall weitersprechen wollte, schloß sie die Augen. »Ich danke dir, Mutter, aber du kannst jetzt wieder schlafen gehen. Mir geht es gut.
Wirklich.«
Wühlmaus seufzte. Liebevoll nahm sie das strähnige Ende von Flechtes langem Zopf in die Hand.
»Flechte, möchtest du bei Wanderer leben?«
Ein ausgedehntes Schweigen folgte.
»Möchtest du es denn?« fragte Flechte schließlich zaghaft.
»Im Grunde nicht«, gab Wühlmaus zu. »Aber er kann dir vieles beibringen, und vielleicht …
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