Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
und schickte einen Funkenregen in den nächtlichen Himmel hinauf.
Fliegenfänger drehte sich wieder um und schob sich näher an Flechte heran, damit er seinen Kopf in ihren Schoß legen konnte. »Mir ist kalt«, flüsterte er. »Ich wünschte, es wäre endlich vorbei.«
Sie blickte auf sein rundes Gesicht hinunter. Direkt unter seiner Nase hatte sich Reif auf seiner Decke gebildet. »Mir ist auch kalt. Aber wir dürfen erst nach Hause, wenn der Tanz vorüber ist. Die Erste Frau wird sonst böse.«
»Ich weiß«, erwiderte er. »Flechte, was haben die Felsen heute nachmittag zu dir gesagt?«
»Oh, nicht viel. Sie sprachen vom Anbeginn der Zeit.« Sie beschloß, mit keiner Silbe zu erwähnen, daß sie ihr gesagt hatten, sie müsse ihre menschliche Seele aufgeben.
»Du hast sie gehört? Wirklich?«
»Ja sicher. Wanderer zog einen Strang aus geflochtenem Menschenhaar über einem Felsvorsprung hin und her und unterhielt sich dabei mit ihnen … eigentlich klang es für mich eher wie Musik, einzelne Wörter konnte ich nicht verstehen.«
»Er ist verrückt, Flechte. Ich mag ihn nicht.«
Sie blickte auf und entdeckte Wanderer zwischen den anderen Tänzern. Er war einen Kopf größer als alle anderen, deshalb war er leicht zu erkennen. Auch seine im Licht der Flammen aufleuchtende Rabenmaske war sehr auffällig. Sie beobachtete eine Weile, wie er tanzte. Zu Flechtes Erstaunen hatte er den ganzen Abend neben ihrer Mutter getanzt. Sie fand das äußerst merkwürdig, denn ihre Mutter mochte Wanderer nicht sonderlich. »Vielleicht gehe ich eine Zeitlang zu Wanderer und lebe bei ihm, Fliegenfänger.«
Erschrocken fuhr er von ihrem Schoß hoch und starrte ihr ungläubig ins Gesicht. Seine Augen sahen aus wie zwei riesige Monde. »Warum denn? Vielleicht kommst du dann nie mehr zurück!«
Vielleicht komme ich nie mehr als menschliches Wesen zurück, meinst du wohl. »Er muß mir ein paar Dinge beibringen. Ich glaube, manches kann ich nur von ihm lernen.«
»Welche Dinge? Meinst du Traumdinge?«
»Hauptsächlich.« Sie zog ihre Decke enger um die Schultern. »Und Geschichten. Er kennt viele Geschichten, die sonst niemand kennt. Vermutlich, weil nur wenige so alt sind wie er.«
»Und er unterhält sich mit Felsen.«
Sie nickte.
»Willst du denn bei ihm leben, Flechte?«
»Ich weiß nicht recht. Ich vermisse Wanderer, wenn ich nicht bei ihm bin, aber ich glaube, meine Mutter würde mir mehr fehlen. Sie hat sich mein Leben lang um mich gekümmert.«
»Hast du keine Angst, mit jemandem zu leben, der kein Menschenwesen ist?«
Heldenhaft schüttelte sie den Kopf. »Nein. Ich lebe jetzt ja auch mit Vögeln, Waschbären und anderen Tieren zusammen. Sie machen mir keine Angst. Fürchtest du sie?«
»Also, nein. Jedenfalls nicht, wenn sie in dem zu ihrer Seele passenden Körper leben«, antwortete Fliegenfänger mit beißendem Spott. »Warum kommt er nicht ins Dorf und unterrichtet dich hier? Er verstummte. Sein Gesicht verfinsterte sich. »Nein, das ginge nie gut. Wahrscheinlich würde ihm jemand bald den Schädel einschlagen.
Plötzlich fuhren beide vor Schreck zusammen. Waldente hatte einen schrillen Freudenschrei ausgestoßen und tanzte unbeholfen, trotz seines verkrüppelten Beins. Ekstatisch schüttelte er seine Kürbisrassel im Takt der hämmernden Trommel. Die Tänzer wichen zurück und stellten sich in zwei Gruppen auf, die den Weg vom Tempel an der Ostseite zur Mitte des Platzes flankierten.
»Da kommen sie!« rief Fliegenfänger aufgeregt. Er sprang auf die Füße und lief zu dem alten Waldente hinüber. Flechte rannte erwartungsvoll hinter ihm her. Rund um den Platz erwachten die Leute. Alte und Kinder erhoben sich und eilten nach vorn, um sich den letzten Teil der Zeremonie nicht entgehen zu lassen.
Der Höhepunkt begann langsam und steigerte sich. Ein Grollen wie von einem Erdbeben ließ die kalte Luft erzittern. Aus dem Tempel erklang monotoner Gesang. Tief und kraftvoll widerhallend begrüßte die Melodie die Geister der Pflanzen und Tiere.
Flechte fiel in die melancholische Weise ein. Bald sang das ganze Dorf mit. Der Gesang schwoll an, wurde lauter und lauter und rollte wie Donner über den vom Feuerschein erhellten Platz.
Die Vorhänge der Tempeltür wurden beiseite gezogen. Zwölf Maistänzer tauchten nacheinander in das zinnfarbene Licht der Mondjungfrau und tanzten mit stampfenden Füßen auf den Platz hinaus. Ihre Masken aus kunstvoll gehämmertem Kupfer glühten, als würden Vater Sonnes Strahlen
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