Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
Ränder neben den Türvorhängen.
Ihre Mutter hatte bereits Licht im Haus angezündet. Der Geruch nach Wasser und feuchter Erde, der vom Pumpkin Creek heraufwehte, hing schwer über diesem Teil von Redweed Village. Aber Flechte roch noch einen anderen Duft, der von dem speziellen Himbeertee ihrer Mutter herrührte, den sie nur zu seltenen Gelegenheiten zubereitete.
Flechte bückte sich unter den Türvorhängen hindurch und streifte mit dem Kopf zwei von der Decke baumelnde Büschel aus Adlerfedern.
»Du hast heute abend wunderschön ausgesehen, Mutter«, rief sie und lief quer durch den Raum zu ihrer warmen Decke aus Bisonfell. Flechte fand es gemütlich in diesem Haus, das ein Quadrat von dreißig Hand umschloß. In der Mitte des Fußbodens flackerte das wärmende Feuer in der von Steinplatten gesäumten Herdstelle. Das Licht tanzte über die gelben Spinnen an den Wänden und ließ die Augen des Steinwolfs, der sich in die Wandnische zu Füßen von Wühlmaus' Bett kuschelte, geheimnisvoll aufblitzen. An der Südwand, unterhalb von Flechtes Bett, stapelten sich etliche Kochtöpfe. Daneben standen drei große, mit Kreuzkraut-, Mais- und Sonnenblumensamen gefüllte Vorratsbehälter.
Wühlmaus lächelte. Sie trug ein weißes Kleid mit schwarzen und roten Spiralen am Saum und auf der Brust. Das lange Haar hatte sie aus dem Gesicht gekämmt und über den Ohren mit Muschelkämmen befestigt. Ihre Augen sahen seltsam groß und dunkel aus - dunkler, als Flechte sie je gesehen hatte.
»Du auch, Flechte. Ich war stolz auf dich. Ich -«
Leise rief Wanderer von draußen: »Ich bin's, Wühlmaus. Bist du soweit?«
»Komm rein, Wanderer. Wir sind fertig. Der Tee allerdings noch nicht.«
Wanderer bückte sich unter den Türvorhängen hindurch. Die Rabenmaske hatte er abgenommen; voller Ehrfurcht hielt er sie in Händen. Die grauen Haare standen ihm wirr vom Kopf ab. Er blinzelte Flechte unsicher zu, setzte sich ans Feuer und blickte auf den an zwei roten Holzstümpfen hängenden Teetopf. Der aufsteigende Dampf schwängerte die Luft mit reichem Himbeerduft.
Wanderer lächelte Wühlmaus verlegen an. Sie erwiderte sein Lächeln, erhob sich und holte den Teller mit Nußkuchen.
»Hast du Hunger, Flechte?« erkundigte sie sich.
»Nein, ich bin nur furchtbar müde.«
»Warum versuchst du nicht zu schlafen? Wanderer und ich müssen uns noch ein bißchen unterhalten.«
Wanderers Gesicht wurde schlagartig ernst. Betreten senkte er den Kopf. »Ja, schlaf, Flechte. Es dauert bestimmt nicht lange.«
Erschrocken über den beunruhigten Ausdruck auf Wanderers Gesicht, verkroch sich Flechte tiefer unter ihrer Decke. Sie schloß die Augen bis auf zwei schmale Schlitze, damit sie noch sehen konnte, was vor sich ging.
Ihre Mutter kniete neben Wanderer nieder und bot ihm Nußkuchen an. »Vielen Dank, Wühlmaus. Es ist lange her, seit ich Kuchen von dir gegessen habe.« Er biß hinein. Seine Lippen verzogen sich zu einem kaum merklichen Lächeln. »Er schmeckt genauso gut, wie ich ihn in Erinnerung habe … Vielen Dank«, wiederholte er.
Beide schwiegen eine Zeitlang. Flechte fühlte die Spannung zwischen ihnen. Schließlich ergriff Wühlmaus das Wort. »Wanderer, ich muß mit dir reden. Irgend etwas geht vor, und ich weiß nicht genau, was.«
Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Was meinst du?«
»Es hängt mit Cahokia zusammen und mit Tharons irrwitzigen Überfällen auf die umliegenden Dörfer.
Wußtest du, daß auf seinen Befehl hin die River Mounds vor ein paar Tagen angegriffen worden sind?«
»Nein, ich … ich bildete mir ein, etwas zu fühlen, aber … was ist passiert?«
Ihre Mutter strich sich mit der Hand über das Haar. »Ich weiß es nicht genau. Nach allem, was ich gehört habe, weigerte sich Jenos, Cahokia den schuldigen Tribut auszuhändigen. Daraufhin drehte Tharon durch. Er das heißt, eigentlich war es Dachsschwanz. Also Dachsschwanz tötete Jenos und brachte Tharon den Kopf des Mondhäuptlings.«
»Oh«, sagte Wanderer so leise, daß Flechte ihn kaum verstehen konnte. In seinen Augen stand tiefer Kummer. »Jenos war ein anständiger Mann und ein guter Häuptling. Ich habe seine Freundlichkeit Nachtschatten gegenüber nie vergessen. Ich bat ihn, sie aufzunehmen, nachdem Tharon sie aus Cahokia verbannt hatte.«
»Das hast du wirklich getan?«
»O ja. Sie konnte sonst nirgendwo hingehen. Außerdem wußte ich, daß sie und ihre Mächte für Jenos von großer Hilfe sein konnten.«
Bei dem Wort »Mächte«
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