Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
vielleicht war es ein Fehler, daß ich so beharrlich versucht habe, die in dir wohnende Macht zu unterdrücken. Anscheinend hat dich die Erste Frau dazu verurteilt, das Leben einer Träumerin zu fuhren.
Ich bete, sie möge deiner Seele gnädig sein.«
Lange blickten die beiden einander stumm an, dann schloß Wühlmaus ihre Tochter in die Arme und drückte sie an sich. Aus der Wandnische am anderen Ende des Zimmers glaubte Wühlmaus, zum erstenmal nach vielen Zyklen wieder den Ruf des Steinwolfs zu vernehmen - ihr war, als stimme er ihr zu.
»Schlaf jetzt, Flechte. Morgen packen wir deine Sachen, und ich bringe dich zu Wanderer.«
Vorsichtig hielt Wanderer, nur mit einem Lendenschurz aus Hirschleder bekleidet, das Gleichgewicht und robbte bäuchlings auf einer Felsspitze entlang, die aus dem Gesims in der Nähe seines Hauses vorragte. Die immer schmaler werdende Spitze stand ein gutes Stück über die Klippe hinaus, so daß er zweihundert Fuß senkrecht hinunterschauen konnte. Was für ein Gefühl von Freiheit! breitete Arme und Beine freischwebend in der Luft aus und ahmte die Bewegungen eines über ihm fliegenden Rabenschwarms nach. Die krächzenden Vögel ließen sich von den warmen, auf dieser Seite der Klippe aufwärts führenden Luftströmungen tragen. Tief atmete Wanderer die nach Gras duftende Luft ein und krächzte ebenfalls. Dabei konzentrierte er sich auf das silberne Band des Vaters der Wasser, das sich in der Ferne durch das baumlose' Schwemmland schlängelte.
Gekreuzter Schnabel, der Anführer des Schwarms, stieß herab und schwebte dicht vor Wanderers Gesicht. Er bewegte die Flügel, um ihm zu zeigen, wie es ging. Wanderer schwenkte seine Arme genauso auf und ab, aber bei ihm funktionierte es nicht richtig.
»Meine Seele möchte ja gern, Gekreuzter Schnabel«, erklärte er verlegen, »aber mein menschlicher Körper sträubt sich.«
Gekreuzter Schnabel stieß ein heiseres Krächzen aus und segelte enttäuscht in den von einzelnen Wolken bedeckten Himmel.
»Vielleicht schenkt mir der Erdenschöpfer in meinem nächsten Leben Flügel, damit ich richtig fliegen kann«, rief Wanderer den Vögeln zu. »Ich -«
»Das bezweifle ich«, wehte eine vertraute Stimme von seinem Haus zu ihm herauf. »Vermutlich wirst du in deinem nächsten Leben eine Ratte.«
Die Stimme riß ihn aus seiner Konzentration, und Wanderer verlor das Gleichgewicht. Er neigte sich bedenklich zur Seite und drohte, von der Felsspitze abzurutschen.
Doch im letzten Moment fanden seine Finger Halt in einem Felsspalt. Zehn Herzschläge lang hing er zwischen Himmel und Erde und starrte aus weit aufgerissenen Augen auf die ameisenkleinen Kalksteinfindlinge hinunter. Endlich fand er die Kraft, die Beine auf die Felsspitze zu schwingen und sich über die Kante des Überhangs zu ziehen, der gleichzeitig das Dach seines Hauses war. Nach Atem ringend blickte er auf Wühlmaus und Flechte hinunter. Das schwere Gepäck auf ihren Rücken erschwerte ihnen den Blick zu ihm hinauf. Ihre nackten Oberkörper glänzten in der Mittagssonne wie mit Kupfer überzogen. Wühlmaus' Brüste waren prall und fest, bei Flechte waren dagegen noch nicht einmal Knospen zu sehen.
»Hallo!« brüllte der überraschte Wanderer. Nach dem Abend in Redweed Village hatte er nicht erwartet, Wühlmaus hier vor seiner Behausung wiederzusehen. Sein Blick fiel auf das Gepäck, und ein winziger Hoffnungsblitz durchzuckte sein Herz. »Was führt euch hierher?«
Mißbilligend zog Wühlmaus eine Augenbraue hoch. Ihre langen Haare, blauschwarz wie das Gefieder einer Elster, flössen in weichen Wellen über ihre Schultern. »Komm da runter wie ein Mensch, und wir sprechen drüber.«
»Oh, natürlich!« Wanderer eilte über den schmalen Pfad bis zur niedrigsten Stelle des Überhangs und sprang hinunter. Er landete mit einem harten Aufprall vor seinem Haus, stolperte ein paar Schritte zur Seite und ruderte wild mit den Armen, um nicht zu stürzen. »Meine Güte, ist das schön, euch beide zu sehen! Kommt rein. Trinken wir Tee!«
Er eilte voraus, aber Wühlmaus' Stimme hielt ihn zurück, als er sich eben unter der Tür bücken wollte.
»Wanderer …«, begann sie. Dann strömten die Worte so quälend und schnell aus ihrem Mund, als müsse sie jetzt sprechen oder nie. »Du hattest recht. Es tut mir leid, daß ich versucht habe, Flechte daran zu hindern, eine Träumerin zu werden. Ich wollte sie nur schützen. Du weißt -«
»Ja.« Er schenkte ihr ein freundliches Lächeln und
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