Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
Klebkraut hat letzten Herbst das ganze Holz verbraucht.«
»Denkst du, Sonnenjäger hätte gelogen, als er sagte er habe die Hirsche gegessen?«
»Sonnenjäger würde keine heiligen Hirsche essen«, gab Berufkraut mürrisch zu. »Er hätte Angst davor. Wie jeder andere vernünftige Mensch auch. Wahrscheinlich hat er das nur gesagt, um sich über uns lustig zu machen.«
Der Pfad öffnete sich zu einem Wiesenhang hin. Berufkraut hielt an, um das verworrene Muster der auf der Wiese kreuz und quer verlaufenden Spuren zu untersuchen. Im Schlamm sah er Wapiti-Wolfs-, Kamel- und Kaninchenspuren. Aber keine der Spuren schien von einem Menschen zu stammen.
Verwirrt schüttelte er den Kopf. War Sonnenjäger zwischen den Bäumen geblieben? Eine dichte Zypressenhecke schirmte die Wiese lückenlos ab. Berufkraut ging daran entlang und lauschte auf den Wind, der flüsternd durch die dunkelgrünen Nadeln strich. An manchen Stellen hatte ein Riesenfaultier das junge Grün von den Zweigen gefressen und frische Dunghaufen zurückgelassen.
Sonnenstrahlen tanzten über die Wiese. Die Tautropfen an den Grashalmen funkelten. Was für ein schöner Tag! Bei diesem Tempo würden sie bei Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein. Berufkrauts knurrender Magen verlangte nach einer guten Mahlzeit, aber beim Gedanken an den Großvater, dem er gegenübertreten mußte, schüttelte er sich unwillkürlich.
»Es wird peinlich, wenn Sonnenjäger früher heimkommt als wir«, sagte Berufkraut.
»Warum? Ist doch egal.« Balsam legte seine junge Stirn in Falten. »Wir können daran sowieso nicht viel ändern. Ich frage mich nur, warum er nicht mit uns sprechen will.«
»Nach dem, was wir mit der Traum-Höhle gemacht haben? Danach würde ich mit uns auch nicht mehr sprechen wollen.« Berufkraut war immer mürrischer geworden, je mehr sie sich der Küste genähert hatten. Wie konnte ich nur so dumm sein?
Balsam blickte ihn von der Seite an. ,Ach, deswegen machst du dir Sorgen. Du denkst, Sonnenjäger wird es Klebkraut erzählen.«
»Warum sollte er das nicht tun?«
»Keine Ahnung, aber ich werde es niemandem erzählen. Am allerwenigsten Klebkraut.« Er verzog das Gesicht und lief weiter.
Sie erreichten den südlichen Rand der Wiese, wo der Pfad wieder zwischen die Bäume trat. Als braunes, von Wapitis ausgetretenes Band wand er sich den Hügel hinab. Berufkraut stemmte die Hände in die Hüften und blickte in die Ferne. Direkt vor ihm lag weit und blau Mutter Ozean. Ihr Körper verband sich in der Ferne mit Bruder Himmel. Dort lag die dunstige Grenze zum Land der Toten. Da, wo Vater Sonne unterging, war eine Öffnung. Durch sie betraten die Seelen das Land der Toten.
Im Süden durchbrach die Zwergeninsel die kristallklare Oberfläche des Wassers. Die große Insel hatte ihren Namen wegen der kleinwüchsigen Tiere erhalten, die da lebten. Die Mammuts wurden dort kaum so groß wie ein Mann. Zwergfuchse jagten an ihren Küsten, und winzige Skunks lebten im Hochland. Der westlichste Gipfel wurde Sandverbenenberg genannt, der Gipfel in der Mitte war der Binsenberg und der große östliche Gipfel der Kreuzblumenberg.
Der Legende zufolge waren vor vielen Generationen die drei Gipfel drei getrennte Inseln gewesen.
Berufkraut glaubte das ohne weiteres. In seinem kurzen Leben hatte er schon verblüffende Veränderungen mitbekommen. Mutter Ozean war ständig gestiegen. Er erinnerte sich, daß Großmutter Sumach ihm als kleinem Jungen verboten hatte, während der Flut in den Sandtälern zwischen dem Kreuzblumenberg und dem Binsengipfel zu spielen, da er im hereinbrechenden Wasser hätte ertrinken können. Nun waren dieselben Sandtäler ständig von Wasser bedeckt, außer bei ungewöhnlich niedriger Ebbe.
Für kurze Zeit teilten sich die Wolken, und die Sonne tauchte Berufkraut in helles Licht. Balsam seufzte auf und hielt sein Gesicht der Wärme entgegen.
»Nun mach schon«, drängte Berufkraut. »Je eher wir heimkommen, desto schneller haben wir die Demütigung hinter uns.«
Sie begannen zu laufen, doch hinter einer Biegung des Pfades stand plötzlich Sonnenjäger. Er hatte sich mit einer Schulter gegen den Stamm einer Tanne gelehnt und die Arme vor der breiten Brust verschränkt. Die an den Fransen seiner schweren Riesenelchlederjacke befestigten Muschelschalen schlugen im leichten Wind leise klingelnd gegeneinander. Berufkraut staunte. Der Riesenelch war so selten. Die alten Leute sagten, daß die Großtiere genau wie die Menschen auf Wanderschaft und
Weitere Kostenlose Bücher