Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
passierten.
Das glühende Gesicht Vater Sonnes erschien hinter den westlichen Gipfeln der Mammutberge, und rote Lichtwellen tanzten über das Meer. Sie spiegelten sich schimmernd im dichten Fell der zurückweichenden Mammuts.
»Sonnenjäger! Sonnenjäger, komm schnell!«
Er wirbelte herum und sah Melisse mit einem Kind im Arm am Boden knien. Er rannte durch die überall verstreut liegenden Habseligkeiten der Leute, an zerstörten Zelten und toten oder sterbenden Mammuts vorbei und kniete neben Melisse nieder. Der alte Mann vergrub sein Gesicht im blutgetränkten Saum des Kleides seiner Enkeltochter. Ihr schönes Gesicht war erstarrt. Lange Flechten ihres schwarzen Haares hingen neben Melisses Mokassins in den Sand.
»Oh, nicht meine Enkeltochter. Nicht Bergsee. Was geschieht denn, Sonnenjäger?« flehte Melisse.
»Was versuchen die Mammuts uns zu sagen? Erst töten sie sich selbst, und nun töten sie uns. Was ist mit der Welt passiert? Du gehst den Pfad durch das Labyrinth zum Land der Toten. Du solltest wissen, warum das geschieht!«
Hilfeschreie ertönten überall im Dorf, suchend und Namen rufend liefen die Bewohner durch den nebligen Morgen. Sonnenjägers Kehle schmerzte. Er ballte die Hände und schüttelte sie aus dem müden Gefühl der Sinnlosigkeit heraus.
»Ich weiß nicht, warum!« rief er, und im Dorf wurde es still. Wie versteinert hielten die Menschen inne und starrten ihn an. »Ich habe den Weg durch das Labyrinth verloren.«
Um ihn wurden zischelnde Stimmen laut, die seine Worte wiederholten.
»… hat den Weg verloren?«
»Sonnenjäger hat den Weg verloren.«
»Er kann nicht mehr zum Land der Toten gehen.«
»O Heilige Geister. Was bedeutet das? Sonnenjäger ist kein Träumer mehr?«
Von der anderen Seite des zerstörten Dorfes stieß Klebkraut einen schrillen Triumphschrei aus und starrte Sonnenjäger sprachlos an, als wäre die Neuigkeit zu schön, um wahr zu sein.
Helfer kam zurückgelaufen und fixierte Sonnenjäger mit weit geöffneten Augen. Dann nahm er Sonnenjägers Ärmel ins Maul und zerrte ihn winselnd nach Norden.
»Nein, Helfer. Ich muß hierbleiben. Heute abend ist die Ratsversammlung. Ich muß …«
Der Hund knurrte und zerrte so heftig, daß Sonnenjäger fast in den Sand gefallen wäre. »In Ordnung.
Ich … ich komme.«
Helfer lief leichtfüßig voran und behielt die Mammuts bei ihrem Rückzug durch den Wald im Auge.
Sonnenjäger folgte ihm auf zittrigen Beinen.
Der Junge schaute mit weit aufgerissenen Augen entsetzt zu. Er schrie: »Warum quälst du sie so, Mann? Was haben sie getan, um das zu verdienen? Sie sind gute Menschen. Sie befolgen deine Gesetze. Sie halten deine Rituale ein. Sie geben dir jedes Stückchen ihrer Seele … und das tust du ihnen an?«
Niemand antwortete ihm. Doch die überall um ihn herum funkelnden Sterne leuchteten noch heller, als ob alle Seelen im Land der Toten zuhörten. Der Himmel war still geworden.
Der Junge fluchte und schimpfte: »Bist du gut, Mann? Oder bist du böse?«
Als noch immer keine Antwort kam, brüllte der Junge: »Ich klage dich der Boshaftigkeit an! Du bist schlecht! Deswegen läßt du mich nicht leben. Deswegen willst du, daß ich mich an diesen verwesten, toten Körper binde. Warum verteidigst du dich nicht, Mann? Ich warte auf deine Rechtfertigung.
Sprich mit mir!«
»Junge, Junge…«, antwortete der Mann müde. »Geh zur Erde runter und verfluche da unten einen Felsen. Ich will, daß du ihn gründlich verfluchst.«
,Aber warum sollte ich …«
» Tu es einfach.«
Also folgte der Junge dieser Aufforderung. Er fand einen großen, häßlichen grauen Felsen und verfluchte ihn drei Tage lang von allen Seiten. Er verfluchte den Felsen und schlug ihn mit Zweigen, bis er vor Müdigkeit nicht mehr konnte. Dann flog er wieder zum schwarzen Himmel empor und nahm seinen Platz in der Mitte des funkelnden Sternenvolkes ein. Ich habe es getan, Mann«, sagte er.
» Was hat der Fels dir gesagt?«
.Nichts.«
»Gar nichts? Hat er sich nicht gegen deine Flüche gewehrt?«
,Nein. Es war ein Fels. Einfach ein toter Fels.«
Da flüsterte der Mann: »Nichts ist tot, Junge. Deine Arroganz macht dich gegenüber dem vielen Leben um dich herum blind. So wie die meisten Menschen. Fels hat gerade einen Teil seines Lebens damit verbracht, dich eine sehr wichtige Lektion zu lehren.«
»Was für eine Lektion?«
»Wenn du das Schweigen von Fels nicht verstanden hast, Junge, wirst du niemals die Worte anderer verstehen … Würdest
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