Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
von den Feuerstellen in den zu Staub zertretenen Zelten. Zwei Bäume waren entwurzelt und umgeworfen worden. Wie seltsam. Manchmal kam es vor, daß ein bösartig gewordener, einsamer Bulle ein Dorf niedertrampelte - aber eine ganze Herde? Und warum dieses Dorf? Und warum jetzt?
Sonnenjäger stürzte sich mitten in den Aufruhr und zielte auf eine große Kuh, die an ihm vorbeirannte.
Sein Speer traf sie seitlich in die Lunge. Sie schwenkte herum, entdeckte ihn, stieß einen markerschütternden Schrei aus und stürzte sich aus einer Entfernung von nicht mehr als fünf Metern auf ihn.
Sonnenjäger warf sich nach rechts. Er kam auf die Füße, als die Kuh sich umdrehte. Mit tödlicher Entschlossenheit peitschte ihr Rüssel hin und her. »Mutter, warum tust du das?« rief er. »Was haben wir getan, um diese Strafe zu verdienen? Bist du wütend auf uns? Wir waren nicht schuld daran, daß die Mammuts ertrunken sind!« Die Kuh hielt inne und starrte ihn aus schmerzerfüllten und ungläubigen Augen an. »Oder?«
Beim Atmen versprühte sie Blut, und ein Schauer warmer Tropfen regnete auf ihn herab. Er kroch hinter eine Tanne, zog einen weiteren Speer aus seinem Köcher und legte ihn in den Haken seines Atlatls ein. »Mutter«, sagte er, »bitte laß mich wissen …«
Bevor er ausreden konnte, sprangen Berufkraut und Balsam unter den Bäumen hervor und warfen ihre Speere in die linke Flanke der Kuh.
»Nein, wartet! Stopp! Sie ist nicht…« schrie Sonnenjäger.
Doch die Kuh stieß ein wütendes Trompeten aus und stürzte sich auf Berufkraut und dessen Bruder.
Sonnenjäger stand auf und schleuderte seinen Speer auf sie. Er traf sie unten rechts am Bauch. Berufkraut traf sie mit zwei weiteren Speeren, bevor ihre Beine nachgaben. Sie taumelte zur Seite und zertrampelte dabei Sonnenjägers Zelt. Noch einmal gewann sie ihr Gleichgewicht wieder und stand zitternd da, dann stieß sie einen leisen Jammerlaut aus und brach in die Knie. Ihr riesiger Kopf schwankte auf den Schultern, als sie Blutklumpen und Lungengewebe aus Maul und Rüssel versprühte. »Balsam! Geh deinem Großvater helfen! Berufkraut, du kommst mit mir!«
Berufkraut folgte Sonnenjäger zum südlichen Rand des Dorfes, wo zwei Mammuts, darunter die Leitkuh, ein halbes Dutzend Leute an einem Felsen in die Enge getrieben hatten. Nicht denken! Denk jetzt nicht darüber nach. Einfach handeln! Die schrillen Schreie der Menschen vermischten sich unheimlich mit dem Trompeten der riesenhaften Tiere. Entsetzt sah er zu, wie die Leitkuh trotz des Speerhagels vorwärtsstürmte und einen Jungen mit dem Rüssel um die Hüfte griff. Sonnenjäger brüllte laut »Nein, Mutter!«, rannte vor und schleuderte seinen Speer mit aller Kraft auf sie ab. Berufkraut tat es ihm nach. Die Wurfgeschosse schlugen in die Flanken der Kuh. Sie schleuderte den Jungen zu Boden und wirbelte herum. »Sonnenjäger, Achtung! Links!« schrie Berufkraut. Ein riesiger Bulle brach aus den Bäumen hervor und rannte direkt auf Sonnenjäger zu. Sein Schatten verdunkelte den Himmel. Sonnenjäger stand wie angewurzelt. Hinter ihm trompetete die Leitkuh ihre Wut heraus, und Berufkraut schrie. Die Stoßzähne des Bullen schimmerten gelb im Licht des frühen Morgens. Als der Bulle seinen Rüssel nach ihm ausstreckte, warf Sonnenjäger sich instinktiv zur Seite, aus der Reichweite der alles zertretenden Füße.
Irgendwo in der Ferne heulte ein Riesenwolf. Die auf den Beinen schwankende Leitkuh, von deren Flanken Blut tropfte, hob den Kopf und lauschte. Auch alle anderen Mammuts hielten inne und standen da, als hätte der Ruf sie in Trance versetzt. Die Dorfbewohner flüchteten, liefen in den Wald.
Sonnenjäger jedoch zog sich heftig atmend zum Fuß des Felsens zurück und betrachtete die Tiere.
Die Leitkuh ließ ihren riesigen Kopf sinken und stieß einen blutigen Atemzug aus. Ihr ganzer Körper zitterte. Für einen Moment erwiderte sie Sonnenjägers Blick. Der Haß in ihren Augen verwandelte sich in einen so tiefen Schmerz, daß er es fast nicht ertragen konnte. Er fühlte, wie seine Seele von einem Schimmer des Verstehens gestreift wurde.
Der Atlatl fiel ihm aus den gefühllos gewordenen Händen und landete im Sand.
Die Kuh stieß einen leisen, mitleiderregenden Ton aus, und die zwei überlebenden Bullen folgten ihr, als sie den Strand entlang davon hinkte. Sie kamen an der Stelle vorbei, wo Helfer stand. Der Hund hatte seine spitze Schnauze nach oben gerichtet und heulte kläglich, als sie ihn
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