Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
dumm«, sagte Berufkraut und stand auf. »Sonnenjäger ist der einzige bekannte Träumer, der zum Land der Toten gehen kann. Bist du jemals dortgewesen, Klebkraut?«
Als der zögerte, brach erneutes Gelächter aus. Ein paar Leute standen angeekelt auf und verließen die Versammlung.
»Nein, war ich nicht«, antwortete Klebkraut schnell. »Und wißt ihr, warum? Ich habe das Labyrinth abgezeichnet, das Sonnenjäger auf seinem quadratischen Hirschleder hat. Und es führt nirgendwohin.
Ich sage euch die Wahrheit. Er behauptet, daß jeder hindurchgehen kann, um zum Land der Toten zu kommen. Ist das irgendeinem von euch gelungen? Wem? Der soll sich melden.«
Schweigen senkte sich auf die Menge. Selbst der innerste Kreis der Ältesten schien sein Argument abzuwägen. Einige der Leute, die hatten weggehen wollen, blieben stehen und lauschten.
»Bah!« schrie Schwindlige Robbe. »Wie viele von uns haben es versucht? O ja, wir tanzen und singen alle gerne für die Rückkehr der Mammuts, aber wie viele von uns haben tatsächlich versucht, uns durch das Labyrinth hindurchzufinden?« Er blickte sich in der Versammlung um. »Ja, genau wie ich es mir gedacht habe. Sonnenjäger sagt uns ständig, daß er unsere Hilfe braucht. Aber solange wir glauben, daß er hindurchfindet, geben wir uns damit nicht ab. Wir können uns alle gemütlich zurücklehnen, da wir ja wissen, daß er die schwere Arbeit macht. Nun, ich bin nicht bereit, ihn zu verurteilen, bevor ich es nicht selbst versucht habe.«
»Nur zu!« schrie Klebkraut. »Versuchs doch. Ich leihe dir meine Kopie des Labyrinths. Sobald ich eine gezeichnet habe - und natürlich ohne meine Veränderungen. Dann komm wieder und berichte uns, wie es dir ergangen ist, Schwindlige Robbe. Berichte uns, ob du hindurchkommen konntest! Ich versichere dir, du wirst herausfinden, es führt…«
Seine Worte wurden von dem Stimmengewirr verschluckt, als Melisse sich erhob. Mit der Wapitihaut über den Schultern sah er im Licht des Feuers klein und schwach aus. Er hob eine Hand und bat um Ruhe. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. »Dieses Gerede über Sonnenjäger ist bedeutungslos«, sagte er. »Zunächst einmal müssen wir an unser Dorf denken. Die Macht hat diesen Platz verlassen. Sie ist zerbrochen, in alle Winde verweht. Wir müssen fortziehen. Wohin sollen wir gehen? Wo sollen wir das Dorf wiederaufbauen?«
Sumach erhob sich und legte einen Arm um Melisses Hüfte. Gemeinsam verließen sie das Feuer und gingen zu ihren Felldecken im Wald. Die ganze Versammlung begann sich aufzulösen, und Klebkraut stand bald fast allein auf dem windigen Dorfplatz.
Nur Yuccadorne kam zu ihm. Ihr altes Gesicht war mit Hunderten von Falten überzogen. Sie packte ihn am Unterarm und flüsterte: »Ich glaube dir. Sonnenjäger ist kein Träumer. Zumindest nicht mehr.
Vielleicht war er nie einer. Ich habe die Sache mit dem Labyrinth noch nie geglaubt. Ich werde mit den Leuten reden und zuhören, was sie sagen. Mir ist es egal, was die andern Küstenklans tun, aber meiner Meinung nach ist es an der Zeit, daß wir einen neuen geistigen Führer für dieses Dorf bekommen.«
Der Eichenwald wurde in Mondlicht getaucht, als Turmfalke den Abhang hinauf nach Norden auf Büffelvogels Lager zuging. Sie keuchte. Büffelvogel hatte sie eine ganze Weile schnell laufen lassen.
Sie konnte sein großes Zelt auf der Hügelkuppe sehen, wo vier junge Männer vor einem Feuer standen. Ihre Gesichter glühten im Flackern der Flammen orangefarben, und ihr rauhes Lachen drang durch die Stille.
Büffelvogel hinter ihr lachte leise. Er hatte ein Lied gesummt und dabei seinen Atlatl rhythmisch gegen die Speerschäfte in seiner Hand geschlagen. »Du freust dich bestimmt, so viele Männer zu sehen, hä, Lahme Antilope? Eine einsame Frau auf der Flucht vor ihrem Mann braucht Liebe.«
Turmfalke zuckte zusammen, lief aber weiter. Vergewaltigung wäre nichts Neues für sie. Nach einigen Minuten ließ der Schmerz nach. Die Wunden heilten. Viel mehr fürchtete sie das, was danach geschehen würde…
»Nun, selbst wenn du dich nicht freust, sie zu sehen, so werden wenigstens sie sich an deinem Anblick erfreuen. Seit über einem Mond sind wir unterwegs auf der Jagd nach Mammuts. In dieser langen Zeit hatte keiner von uns das Vergnügen, auch nur eine einzige Spur zu entdecken, ganz zu schweigen von einer Frau. Und du bist sehr hübsch, trotz der Prellungen und Schnittwunden in deinem Gesicht.«
Damit steckte er seine Speerschäfte in den
Weitere Kostenlose Bücher