Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
gefährlich unter ihren Mokassins. Als hätte sie das Gleichgewicht verloren, stöhnte Turmfalke auf »O nein!« und ließ Wolkenmädchen ins Gras fallen.
»Was ist los?« fragte Büffelvogel. »Halte dich einfach am nächsten …«
Turmfalke zog das Wadenbein aus ihrem Bündel und wirbelte herum. Der Mund blieb Büffelvogel offenstehen, als er das Stilett in ihrer Hand sah. »Nein!« keuchte er, als sie ihm das Wadenbein mit ihrem ganzen Gewicht in die Brust trieb. Blut spritzte auf sein bockledernes Hemd und machte ihre Hände feucht.
Büffelvogel stieß einen entsetzten Schrei aus. Als er rücklings zu Boden stürzte, gelang es ihm, sie zu packen. Sich wie Liebende umklammert haltend, rollten sie den Hang hinunter. Um sie herum wirbelten Staubwolken auf. Obwohl sie völlig außer sich war, fragte Turmfalke sich dennoch, warum Wolkenmädchen noch nicht angefangen hatte zu schreien. Jeden Moment erwartete sie es … erwartete, daß die Brüder den Lärm hörten und angerannt kamen.
Die beiden Kämpfenden rollten über Gestrüpp und Felsen, bis sie heftig gegen einen Baumstamm prallten. Büffelvogel ergriff Turmfalkes langes Haar und versuchte, sie von sich wegzuzerren, doch sie schlang ihre Beine um die seinen und schlug mit der Faust auf das herausstehende Ende des Wadenbeins, um die scharfe Spitze noch tiefer zu treiben. Er keuchte und setzte sich halb auf, um Turmfalke ins Gesicht zu starren. Vor seinen Lippen standen Blutblasen.
Langsam sank er auf das Gras, dann wurde er schlaff. Turmfalke rollte sich zur Seite. Sie hielt die blutige Hand vor den Mund und schluchzte leise.
Auf dem Hügel hatten Büffelvogels Brüder aufgehört zu lachen. Ein Gewirr von Stimmen erhob sich.
Einer der Männer verließ das Feuer und kam zur Kante der Hügelkuppe, um hinabzublicken. Gegen den goldenen Schein der Flammen sah er riesig aus.
Turmfalke zerrte den Speerköcher unter Büffelvogel hervor, doch die Schäfte waren zerbrochen. Eine der Fingerschlaufen des Atlatl war noch immer um Büffelvogels Finger geschlungen. Turmfalke riß die Schlaufe los, bevor sie stolpernd auf die Füße kam und zu Wolkenmädchen rannte. Als sie nach dem Kaninchenfellsack griff, gab Wolkenmädchen einen leisen Ton von sich, als wollte sie Turmfalke fragen, ob alles in Ordnung sei. »Mir geht's gut, Tochter. Halt dich fest. Wir müssen schnell laufen!«
Sie rannte um den Fuß des Hügels und hielt das Baby fest mit ihren Armen umklammert.
Da es zu gefährlich war, den Pfaden zu folgen, mußte sie sich mitten in die tiefste Dunkelheit des dichten Waldes wagen. Unter ihren Mokassins zerbrachen knackend Zweige, als sie über einen umgestürzten Baumstamm sprang und in das schwarze Herz des Waldes stürmte, wo kein Mondlicht hindrang.
Hinter ihr schrie jemand. Dann durchdrang das Gebrüll wütender Stimmen die Nacht. Sie konnte das Laufen von Männerfußen hören.
Der Traum, der gleiche Traum, immer der gleiche.
Es war eine Stelle, zu der niemand kam. Niemand außer ihm. Weil nur ihm noch etwas an dem ermordeten Baby lag.
Ein Dickicht von Weiden und Röhricht wuchs an den Rändern des Gänsefuß-Sumpfes. Das Wasser war von einer niedrigen Sandsteinterrasse, nicht mehr als mannshoch, umgeben. Jahresumläufe von Wind und Regen hatten Dutzende von flachen Felsunterständen ausgegraben, und am Boden des Felsunterstandes an der Nordseite des Sumpfes lag sein kleiner Bruder, der als Baby gestorben war, unter einem Haufen aus Erde und Steinen. Dieses Grab zog ihn an wie der Geruch von Blut ein ausgehungertes Tier.
Die Sonne wärmte Stechapfels Gesicht, als er eine Hand auf den kühlen Stein legte und dem schmalen Pfad um den Sumpf herum folgte. Auf der Suche nach Schlamm für ihre Nester krabbelten etwas weiter unten Wespen über das Ufer. Schnell schwirrten sie mit ihren durchsichtigen Flügeln. Hunderte von kleinen, runden Gebilden hingen an dünnen Schlammsträngen von den Decken der Felsunterstände. Dieser Ort mit seinen leisen Geräuschen verschaffte seiner gequälten Seele Erleichterung. Das Geschnatter der weißen Pelikane und der Enten drang aus dem Röhricht. Ab und zu schlug eine Kette von Pelikanen gleichzeitig mit den Flügeln, um Fische ins flache Wasser zu treiben, wo sie sie einfach herauslöffeln konnten. Weiter draußen gründelten grünköpfige Erpel nach Elritzen.
Als der Pfad um ein Rohrkolbendickicht bog, sah Stechapfel das Grab. Er blieb stehen und sog die würzige Luft tief ein. Entlang der Risse in dem schmalen
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