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Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste

Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste

Titel: Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gear & Gear
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Felsvorsprung wuchs Minze, und ein Dickicht aus Farnen säumte die Vorderseite. Diese Stelle war deshalb von außerordentlicher Schönheit. Ein grüner Ochsenfrosch saß am Rand des Farns. Bei jedem Quaken blähte sich seine Kehle auf.
    »Ich bin zurück, kleiner Bruder. Warst du einsam?«
    Stechapfel hatte den Steinhaufen über dem Grab errichtet. Seit damals, vor zwanzig Jahren, hatten sich die Steine mit Moos überzogen. Er näherte sich ehrerbietig und sang leise ein Lied für den kleinen Geist, der unter den Steinen wohnte. Sein Volk glaubte, daß die Seelen toter Babys im Körper des nächsten Kindes der Familie wieder auf die Welt kamen. Stechapfels Vater, Blauer Krieger, hatte keine weiteren Söhne gezeugt. Bei Stechapfel lag nun die Pflicht, dem kleinen toten Jungen einen Körper zu geben, in dem er wiedergeboren werden konnte.
    »Mach dir keine Sorgen, kleiner Bruder. Ich werde heiraten. Bald wirst du wieder bei mir sein.«
    Stechapfel streichelte über den moosbewachsenen Felsen und erinnerte sich.
    Seine Eltern hatten miteinander gestritten. Stechapfel war in die Hütte gerannt, als sein Vater sich gerade über die Wiege seines kleinen Bruders beugte und das Baby erwürgte.
    An diesem Tag war irgend etwas mit Stechapfel geschehen. Beim Anblick des winzigen, blau angelaufenen Jungen war etwas in seiner Seele in zwei Teile gebrochen wie ein trockener Zweig unter einem schweren Huf. Er hatte geschrien, seinem Vater das Baby aus den Händen gerissen und es hinaus in die Sonne getragen, in seinen Armen hin und her gewiegt. Er …
    »Stechapfel?«
    Eine Hand rüttelte ihn an der Schulter. Blinzelnd schreckte er hoch.
    »Stechapfel, wach auf! Du hast einen schlechten Traum.«
    »Ja«, flüsterte er heiser und stieß die angehaltene Luft aus. Er wälzte sich auf den Rücken. Der Geruch taufeuchter Erde wurde vom Wind herangetragen. Der Nachthimmel mußte von Wolken überzogen sein, denn in ihre aus Buschwerk errichtete Hütte drang kein Lichtstrahl. Er konnte nicht einmal ihre Lager aus Fellen erkennen. Das Entsetzen des Traums blieb wie ein übler Geruch in seiner Seele zurück. Er tastete in der Dunkelheit herum, fand sein Bündel und drückte es an die Brust - hielt seinen Sohn, Kleiner Kojote, sicher und fest. »Einen sehr schlechten Traum. Einen Traum, den ich schon oft hatte.«
    »Ich wußte nicht, daß du einen solchen Traum hast. Wovon handelt er?
    »Mach dir keine Sorgen deswegen. Hm, mir geht es gut. Schlaf wieder ein, Tannin. Danke, daß du mich geweckt hast.«

16. KAPITEL
    Hoch über Sonnenjäger zogen die Wolken feine, weiße Pinselstriche über den lupinenblauen Leib von Bruder Himmel.
    Sonnenjäger arbeitete sich vorsichtig ein Bachbett entlang und lauschte dabei auf das Gluckern des Wassers, das durch eine Eiskruste sickerte. Der Wildwechsel verlief nun in einem Canyon mit senkrechten Wänden, in den kaum Sonnenlicht drang. Im Schatten hielten sich noch wellig ausgezackte Schneereste. Als der Tag sich dem späten Nachmittag zuneigte, kam vom Meer her ein kalter Wind auf, der durch die Bäume fegte und die Steilwände entlangpfiff. Er drang mit so eisigen Fingern unter Sonnenjägers Kleidung, daß er zu zittern begann. Er schlug den Kragen seines Lederhemds hoch und hielt ihn vorne zusammen. Helfer war schon so weit vorgelaufen, daß er ihn aus den Augen verloren hatte.
    Er folgte Helfer nun schon seit zwei Tagen. Die Bullen waren abends zuvor zurückgefallen und im Wald verschwunden, um zu sterben. Nur die verwundete Mammutkuh lief noch vor ihnen auf dem Pfad. Mit jedem Schritt mußten die Obsidianspitzen seiner Speere tiefer in sie eindringen. Inzwischen mußte der Schmerz für sie unerträglich geworden sein.
    Es ist deine Schuld, Sonnenjäger. Du hast ihr diese Schmerzen zugefügt. Als Mammut-Oben auf seiner ersten Suche nach einer Vision zu ihm gekommen war, hatte er ihr versprochen, daß er nie wieder den Atlatl gegen eines ihrer Kinder erheben werde. Würde sie verstehen, daß er keine Wahl gehabt hatte?
    Daß diese Kinder bösartig geworden waren?
    Er senkte die Augen und betrachtete das blasse Licht, das den Canyon sprenkelte. Auf den Steinen des Pfades glänzten dunkelrote Flecken. Die Kuh hatte sehr viel Blut verloren. Warum war sie noch nicht zusammengebrochen?
    Vor ihm wand sich der Wildwechsel durch eine schattige Bergschlucht und verschwand hinter einer Ausbuchtung in der Wand des Canyons. Sonnenjäger trottete vorwärts. Während er der Krümmung des Pfades folgte, entdeckte er

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