Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
Köcher und streckte die rechte Hand aus, um ihr übers Haar zu streichen. Turmfalke wich ihm aus.
Er grinste und ließ seinen Atlatl an den aus einer Sehne gefertigten Fingerschlaufen herumwirbeln.
»Wirst du dich gegen uns wehren? Oh, das wäre gut. Meinen Brüdern würde das gefallen. Vielleicht könntest du uns für die ganze Nacht Unterhaltung verschaffen.«
Turmfalke drehte sich um und sah ihn an. »Büffelvogel, sei jetzt ehrlich zu mir. Es ist mir egal, was ihr mit mir macht, aber was werdet ihr mit meinem kleinen Mädchen tun?« Gegen den tiefblauen Abendhimmel sah er größer und muskulöser aus als vorher. »Sie ist erst zweiundzwanzig Tage alt und stellte keine Bedrohung für dich oder deine Brüder dar. Und … und ihr könntet sie verkaufen. Oder sie jemandem geben, der gerne ein Baby hätte.«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete er. »Der Händler hat uns nur gesagt, daß er seine Frau zurückhaben will. Und wie sollten wir das Baby ernähren, wenn du weg bist? Das Mädchen würde eine Menge Probleme machen.«
»Was bedeutet das?«
»Es bedeutet, daß ich es nicht weiß.«
»Werdet ihr mein Baby töten?« Der Kaninchenfellsack in Turmfalkes Armen fühlte sich plötzlich leichter an, als ob ein Teil Wolkenmädchens ihr schon entschlüpft sei. Ihre Gedanken rasten, und sie preßte ihre Tochter fester an sich.
Büffelvogel zuckte mit den Schultern. »Ich muß mit meinen Brüdern darüber reden. Aber wir wollen diesen Händler so bald wie möglich finden. Eine Frau alleine kann ziemlich schnell laufen, aber wenn sie auch noch ein Baby schleppt? Das Kind hat für uns keinen Wert.«
»Keinen Wert?« Turmfalke war wie vor den Kopf geschlagen. Sie schaute auf Wolkenmädchens wunderschönes, von der Kaninchenfellkapuze umrahmtes Gesicht, und der feste Grund unter ihren Füßen schien sich in Treibsand zu verwandeln.
Als er ihr entsetztes Gesicht sah, lachte Büffelvogel: »Für dich, Lahme Antilope, wäre es am besten, wenn du wirklich diese Turmfalke bist, die der Händler sucht. Wenn aber nicht und wir schon dein Baby getötet haben … Nun, wir könnten nicht zulassen, daß du zu deinem Klan zurückkehrst und ihnen von uns erzählst. Deinetwegen könnte ein Krieg ausbrechen, viele gute Menschen würden den Tod finden. Und alles wäre deine Schuld.«
Turmfalke blieb wie festgewachsen stehen. Er hatte ihr gerade mitgeteilt, daß er sie und Wolkenmädchen ermorden würde, und er hatte dabei so gefühllos gesprochen, als ginge es um das Toten von Feldmäusen. Warum lief sie nicht weg? War in den letzten paar Wochen ihre ganze Seele aus ihr herausgesickert? Wie konnte sie nur ihre Hände so ruhig und fest um Wolkenmädchen legen, statt sie hochzunehmen und ihm die Augen auszukratzen?
Hat Stechapfel deinen Überlebenswillen zerstört? Warum stehst du nur einfach so da?
Büffelvogel stieß sie heftig gegen die Schulter, dann schlug er ihr den Atlatl aufs Gesäß. »Lauf schon!
Ich habe Hunger. Im Lager wartet frisches Hirschfleisch auf uns.«
Turmfalke drehte sich um. Oben auf dem Hügel huschten die Schatten der Brüder über den Wald wie riesige, unförmige Ungeheuer. Sie begann zu laufen. Mit den Augen suchte sie beide Seiten des Pfades ab. Etwa zwanzig Schritte weiter vorn sah sie eine mit dichtem Gras bewachsene Stelle. Dort bog der Pfad über eine niedrige Felsstufe scharf nach oben ab.
Ihre Schritte wurden so leise wie die eines Rotluchses beim Morgengrauen. Mit äußerster Vorsicht verlagerte sie das Gewicht des Kaninchenfellsacks auf ihren linken Arm und streckte langsam eine Hand aus, um das um ihre Hüfte gebundene Bündel aufzuschnüren. Völlig lautlos ließ sie ihre Finger über den Inhalt huschen: Steinschneiden, Bänder, Wolkenmädchens Schnuller aus Mäusefell, das Wadenbein des Tapirs … In ihrem Magen kam Übelkeit auf, als ihre Finger sich um das Wadenbein schlössen. Du kannst es tun. Du mußt!
»Übrigens …« Büffelvogel war nun sehr dicht hinter ihr, und der Abstand verringerte sich, je mehr sie sich den Felsen näherten, »… der Bruder dieses Händlers, Tannin, erzählte mir, daß Turmfalke Blutschande begangen hat. Wenn du Turmfalke bist, ist dein Baby schon so gut wie tot. Wenigstens machen wir es schnell, so daß das Mädchen nicht leidet. Dieser Stechapfel war mir nicht geheuer. Er war so verrückt, er könnte sie quälen …«
Turmfalke äugte zur Seite auf die mit dichtem Gras bewachsene Stelle und setzte den Fuß auf die ersten Steine des Felsens. Sie wackelten
Weitere Kostenlose Bücher