Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
Oberhaupt.«
Berufkraut breitete kurz die Arme aus. ,Aber sieh sie dir an! Sie stehen da wie verängstigte Hirschkälber. Wie sollen sie wissen, was gut für sie ist? Wenn Sonnenjäger hier wäre …«
»Ja, ja, das ist wahr«, seufzte Melisse. »Wenn Sonnenjäger hier wäre, würde er diesen Leuten die Wahrheit sagen, ob ihnen das nun gefiele oder nicht. Und sie würden das, was er sagt, respektieren.
Aber er ist nicht hier. Wir wissen nicht, wo er sich aufhält.«
Berufkraut drehte sich um und schaute seinen Großvater an. »Du meinst, daß seine Abwesenheit strafbar ist? Daß die Leute die Botschaft glauben, die sie am häufigsten hören?«
»Wer am häufigsten spricht, erhält ein größeres Gewicht, als wer am besten spricht, Berufkraut.«
Melisse massierte sein runzliges Kinn, während er die Dorfbewohner anblickte. Viele standen unter den Bahren ihrer toten Angehörigen und weinten. »Denk immer daran. Es ist sehr wichtig, das zu wissen.«
»Heilige Mutter Ozean«, hauchte Berufkraut. »Wenn das so ist, bete ich, daß Sonnenjäger bald zu uns zurückkommt.«
Sumach hinter ihm stimmte ein: »Ja, bitte, Mammut-Oben, laß Sonnenjäger bald zu uns zurückkehren.«
17. KAPITEL
Langsam umkreiste Stechapfel die Leiche mit dem federnden Schritt eines jagenden Wolfs. Vater Sonne war strahlend und heiß hervorgekommen und trieb ihm den Schweiß auf das faltige Gesicht, von wo er die schweren Wangen hinabrann und auf sein Hemd aus Wapitileder tropfte.
Nicht weit von ihm unterhielt sich Tannin in dem Eichenwäldchen mit Büffelvogels vier Brüdern. Die Raben hatten sich bereits eingefunden. Vom Verwesungsgeruch angezogen, hockten in den Bäumen zwanzig oder mehr der schwarz schillernden Vögel und ließen ihr Krächzen vernehmen. Stechapfel bewunderte sie. Nur die Raben und er selbst würden aus diesem Tag einen Vorteil ziehen.
»Ja«, hörte er Tannin Milan, dem ältesten der Brüder, antworten. Tannin hielt den Kopf gesenkt und hatte den Mund zusammengekniffen. Sie hatten sich um das glimmende Lagerfeuer versammelt und tranken Tannennadeltee. »Es muß Turmfalke gewesen sein.«
Weit unten, in der Talsohle, schlängelte sich ein Bach durch dichtes Weidengestrüpp. Dickichtartige Waldgruppen aus Eichen und Kiefern sprenkelten die Hügel dahinter. Stechapfel kniff die Augen zusammen und betrachtete sie ein paar Sekunden lang, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Büffelvogel zu. Strähnen von Turmfalkes dunklem Haar waren in die erstarrten Finger des Toten verschlungen. In der Nacht hatte sich ein Löwe über die Leiche hergemacht. Er hatte ihr tiefe Wunden in die Brust geschlagen und dabei das Tapirknochenstilett teilweise herausgezogen. Als er Büffelvogel nicht wegzerren konnte, hatte der Löwe ihm die Schulter durchgebissen. Das Blut war auf das Gras gespritzt.
Am Feuer sagte Milan: »Der Löwe kam, als wir im Wald waren und versucht haben, sie aufzuspüren.
Wir kehrten zurück und haben Büffelvogel so gefunden.«
Milans junges Gesicht verzog sich vor Kummer und Haß. Er hatte eine breite Stirn, kleine Augen und eine flache Nase. Sein tiefrot gefärbtes Lederhemd zeichnete sich gegen den Hintergrund der grünen Eichen scharf ab.
Stechapfel kniete sich nieder, um das aus der Brustwunde ausgetretene geronnene Blut zu befühlen.
Packratten hatten daran herumgeknabbert.
»Wir werden euch helfen, sie zu finden«, sagte Milan zu Tannin.
»Stechapfel wird euch reich belohnen. Er ist sehr wohlhabend.«
»Wir wollen keine Belohnung außer der Gelegenheit, sie sterben zu sehen.« Wütend schüttete Milan seinen Tee in das glimmende Feuer und sah zu, wie er in der Glut verzischte. »Büffelvogel war unser jüngster Bruder. Er liebte Spaße und Abenteuer, immer hat er die Leute zum Lachen gebracht.« Milans Gesicht verzerrte sich. »Unser Dorf wird tagelang um ihn trauern. Und unsere Mutter … Büffelvogel war ihr Lieblingssohn.«
»Ich verstehe«, sagte Tannin. »Eure Hilfe ist uns willkommen.«
»Ja«, sagte Stechapfel, »eure Hilfe ist uns willkommen.« Er stand da und musterte die Umgebung.
»Wir werden wohl nicht lange brauchen. Ich kann das, was in der Nacht vorgefallen ist, ganz deutlich lesen. Sie hat Büffelvogel dort oben beim Felsen angegriffen, und dann sind sie diesen Hügel hinuntergerollt und gegen die große Eiche geprallt, wo sie ihn getötet hat.« Er atmete tief durch.
»Und danach«, fuhr er fort, »ist sie in den Wild geflohen … da!« Er deutete mit dem Kopf auf die Stelle,
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