Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
wo Turmfalke in den Wald eingedrungen war. Er konnte jeden kahlen Ast erkennen, den sie auf ihrer Flucht zerbrochen hatte. Bildete sie sich etwa ein, die Tiefen des Waldes seien sicherer als die Pfade? Diese einfältige Frau. Im Gestrüpp des Unterholzes und zwischen den Haufen von trockenen Ästen würde es ihr fast unmöglich sein, ihre Spuren zu verbergen. Insbesondere jetzt. Ihr Vorsprung war nicht beträchtlich.
Stechapfel lachte. »Sie kann sich nicht vor mir verstecken. Wenn sie über einen umgefallenen Baumstamm klettert, werde ich die Stelle finden, wo die Rinde zerkratzt ist. Wenn sie einem Wildwechsel folgt, werde ich die Mokassinabdrücke unter Hunderten von Hirschspuren herauslesen können.«
»Ist er wirklich ein so guter Spurenleser?« fragte Milan Gerbsäure.
»Ja. Er ist der beste. Er …«
Tannin hielt inne, als Stechapfel sich neben Büffelvogels Körper niederkniete. Mit sicherer Hand nahm er das Bündel vom Rücken und band es auf.
»Stechapfel. Nein! Bitte!«
Sanft hob Stechapfel das tote Baby aus dem Bündel und stellte es aufrecht auf die Wunde an Büffelvogels Brust. Der winzige Körper des Jungen war nun vollkommen mumifiziert. Er hatte den Jungen bekleidet, indem er den fransenbesetzten Ärmel seines Ersatzhemdes aufgetrennt und für die steifen Arme und den Kopf des Kindes Löcher hineingeschnitten hatte. Stechapfel hatte in einem Flußbett zwei grüne Steine gefunden, sie in Kleiner Kojotes leere Augenhöhlen eingesetzt und die Lider in geöffneter Stellung festgenäht. An dem winzigen, verwelkten Mund des Jungen ließ sich nichts ändern. Der Mund war eingefallen und bildete ein Loch in dem Gesicht.
»Schau, Kleiner Kojote«, sagte er mit belegter Stimme. »Das hat deine Mutter getan.« Er kippte den Jungen nach vorn, so daß seine starren Augen auf das von dem Wadenbeinstilett geschlagene, blutige Loch fielen. »Sie ist eine Mörderin. Wir müssen sie finden, und sie wird dafür bezahlen.«
Als Stechapfel merkte, daß Tannin und der andere Mann ihre Unterhaltung unterbrochen hatten und ihn anstarrten, stand er auf und trug Kleiner Kojote in ihren Kreis. Zwei der Brüder sahen das Baby angeekelt an. Es machte Stechapfel wütend, doch er behielt seinen Ärger für sich und lächelte. Mein Bruder denkt, daß ich verrückt bin. Tannin sollte für diesen Blick tausendfach bezahlen. Er sollte doch verstehen. Wenigstens er. Er war damals dabeigewesen.
»Ich verspreche euch, daß wir Büffelvogels Tod rächen werden«, sagte Stechapfel.
»Ja.« Milan nickte zu schnell sein Einverständnis. »Wenn wir deine Frau finden können.«
»Darüber braucht ihr euch keine Gedanken zu machen.« Stechapfel verließ die Gruppe, hob Kleiner Kojote hoch über den Kopf, schloß dann die Augen und begann, Schritt für Schritt einen Kreis abzuschreiten.
Er hörte, wie Milan Tannin zuflüsterte: »Wie hat er das hinbekommen? Den Körper, meine ich.«
Tannin antwortete: »Es ist etwas, das er vom Volk der Masken hoch oben im Norden gelernt hat. Sie entfernen die Eingeweide aus der Bauchhöhle ihrer toten Kinder und räuchern dann den Körper, um ihn auszutrocknen. Sie glauben, daß so die Seele eines Kindes für immer an den Körper gebunden bleibt.«
»Und dein Bruder glaubt das auch?«
»Ja, ich … ich denke, ja.«
»Er verhält sich so, als glaube er, der Junge sei noch am Leben. Stimmt das?«
Tannin antwortete leise: »Es geht ihm nicht gut. Seit Turmfalkes Flucht ist es mit ihm viel schlimmer geworden.«
Stechapfel kochte vor Wut. Doch noch immer beherrschte er sich strikt.
»Schlimmer geworden? War er vorher gesund?«
»Er war sehr viel unterwegs, auf den Handelspfaden. Ich weiß nicht, wann das angefangen hat.«
Sie hatten es niemals gesehen. Keiner von ihnen war so weit im Norden gewesen. Aber Stechapfel wußte es. Mit seinen eigenen Ohren hatte er diese toten Babys sprechen hören. Er hatte ihre körperlose Stimme aus dem bewegungslosen Mund kommen hören, hatte vernommen, wie sie die Richtung wies, Ratschläge gab. Und er konnte schon jetzt das Entstehen einer Stimme in Kleiner Kojote spüren. Obwohl die Träumer vom Volk der Masken behaupteten, daß mumifizierte Kinder oft Jahre brauchten, um sprechen zu lernen, lernte sein Sohn viel schneller.
Gerade in diesem Moment konnte er sogar ein feines Wispern vernehmen: Nordwesten. Sie ist nach Nordwesten gegangen, Vater.«
Stechapfel öffnete die Augen und schob Kleiner Kojote sanft in das Bündel zurück. Dann hob er einen Arm und
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