Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
streckte ihn aus. »Da! Das ist die Richtung, die sie genommen hat.«
Milan wechselte Blicke mit seinen Brüdern. Die Spannung lag greifbar in der Luft.
»Aber«, entgegnete Tannin. »Turmfalkes Fährte verläuft in Richtung Westen, Stechapfel. Milan sagte mir, daß es nur zwei Tage entfernt ein Dorf gibt - im Westen. Vielleicht sollten wir da anfangen. Diese Leute haben sie möglicherweise gesehen.«
»Das ist nicht die Richtung, die sie genommen hat«, schrie Stechapfel. »Kleiner Kojote sagt, daß sie nach Nordwesten geht. Das ist die Richtung, die ich auch wähle. Ihr könnt euch nach Westen wenden, wenn ihr wollt.«
Die vier Brüder flüsterten wütend miteinander und warfen dabei abschätzige Blicke auf Stechapfel wie auf ein von Maden durchzogenes Stück Fleisch.
Stechapfel wandte sich verärgert ab. »Los, Tannin, geh doch mit Büffelvogels Brüdern! Ich werde euch dort treffen, nachdem ich meine Frau gefunden habe.«
»Nein, Stechapfel, warte!« rief Tannin. »Das habe ich nicht gemeint. Ich werde dich nicht allein lassen.«
Pflichtschuldig folgte er Stechapfel und drang mit ihm in den dichten Baumbestand ein. Tiefgrüner Schatten umfing sie.
Milan hielt die Hände als Schalltrichter vor den Mund und rief: »Wir kommen nach, sobald wir das Lager abgebrochen und unseren Bruder begraben haben.«
»Er wird es schaffen, Mann. Heute habe ich das erste Mal die Kraft in ihm gespürt. Er wird mich in meinen Körper zurückrufen, mich vollständig zurückrufen. Nicht nur meine Körperseele. Stechapfel will mich vollständig. O Mann, laß das nicht zu!« Der Junge weinte bittere Tränen. »Bitte, Mann, ich flehe dich an. Rette mich.«
Ein silbernes Glühen überzog den schwarzen Schoß, und der Mann sagte: »Wenn du wirklich gerettet werden willst, so mußt du diese Prüfung suchen. Denn wenn du vor ihr davonläufst, wirst du immer wieder auf die gleiche Prüfung stoßen, welchen Pfad auch immer du wählst. Das verstehst du doch, Junge? Du hast genug über diese Dinge nachgedacht, um das zu verstehen, oder?«
Der Junge antwortete nicht.
18. KAPITEL
Berufkraut ging neben Melisse die Küste entlang. Er hielt den Kopf gesenkt und betrachtete die Muscheln, die vom Meer angeschwemmt worden waren. Er tat alles, um die Gespräche nicht hören zu müssen, die in dem Menschenzug hinter ihnen hin und her gingen. Die Leute murrten. Kinder schrien.
Ein Hund bellte etwas an, das er im dichten Baumgestrüpp entdeckt hatte.
Während der letzten sieben Tage hatte Berufkraut schon viel zuviel Genörgel und Gejammer gehört.
Eigentlich hatte keiner schuld daran, daß sie einen neuen Platz für ihr Dorf finden mußten, aber die Leute schienen seinen Großvater dafür verantwortlich zu machen.
Innerlich glühte er vor Ärger. Nur ein Idiot konnte an Melisses Hingabe für sein Volk zweifeln.
Er blickte zur Seite nach seinem Großvater. Der alte Mann hatte sein graues Haar zu einem kurzen Zopf geflochten, der über den Kragen seines bockledernen Hemdes herabhing. Die Lippen waren fest zusammengepreßt, die Stirn gefurcht. Das Laufen fiel Melisse schwer, und der Schmerz zeichnete sich deutlich auf seinem Gesicht ab. Jeden Abend, wenn sie ums Feuer saßen, warf Sumach Weidenrinde in einen großen Kochsack aus Darmhaut und ließ sie zu einer dicken, milchigen Flüssigkeit verkochen, die sie Melisse zu trinken gab. Der Trank linderte den Schmerz in seinen Knien, doch Berufkraut konnte sehen, daß das ständige Laufen seinen Preis forderte. Melisses Gang wurde jeden Tag steifer.
Berufkraut legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Prachtvolle Wolkenberge trieben träge vorbei, im Sonnenlicht schimmerten ihre Ränder golden. Bruder Himmels Bauch war sauber und glänzte wie frisch gewaschen. Um die Wolken herum schimmerte es wie geschliffener Türkis.
Berufkraut atmete die kühle Luft: tief ein. Er konnte den Duft der Tannen riechen, aber auch den vollen Geruch von feuchter Erde, Salzwasser und Tang.
Alle waren gereizt. Melisse hatte kaum ein Wort gesagt, seitdem sie Bergsees Seele ins Land der Toten gesungen hatten. Wenn er jedoch sprach, dann klangen seine Worte scharf. Jeder Satz war ein Befehl oder genauso oft eine Beleidigung.
Bergsees Tod hatte Melisse zutiefst getroffen. Manchmal wachte er mitten in der Nacht auf und rief ihren Namen. Er schwor dann, daß er ihre kleinen Schritte gehört habe. »Ich habe sie gehört, das sage ich euch.«
Berufkraut schloß kurz die Augen und drängte den Schmerz zurück. In
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