Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
der ersten Nacht nach dem Angriff der Mammuts hatte er sich unter seinen Felldecken zusammengerollt und das Gesicht im Ärmel vergraben. Er fühlte sich einsam und elend und wollte seinen Kummer herausweinen. Aber er konnte nicht. Balsam lag neben ihm, und er hatte seinen jüngeren Bruder weinen hören. Er hatte Balsam an sich gezogen und ihn die ganze Nacht so gehalten. Wann immer Balsams Tränen wieder geflossen waren, hatte er ihn gestreichelt.
Seit damals, vor acht Tagen, schien die ganze Welt von etwas Üblem durchdrungen, das nicht weichen wollte. Es lag auch nicht nur daran, daß Sonnenjäger sie nach dem Angriff verlassen hatte. Berufkraut hatte das merkwürdige Gefühl, die Mutter könne sich jeden Moment erheben und sie alle in ihrem Arger ertränken. Er konnte sich jedoch nicht vorstellen, was diesen Ärger ausgelöst haben mochte.
Er schaute über die Schulter zurück auf den langen Zug von Menschen. Die Frauen gingen am Schluß, und wegen der schweren Bündel, die sie auf dem Rücken trugen, liefen sie vornübergebeugt. In der Nähe der Kindergruppe trotteten die Hunde. Sie zogen Schleppgestelle, die mit Haushaltsgegenständen hoch beladen waren. An der Spitze gingen die Männer mit ihren Waffen.
Melisse und Berufkraut führten den Zug an. Alle hatten für den Marsch ihre einfachsten Kleider angezogen. Alle außer Klebkraut. Das Hemd des Träumers glitzerte vor Perlen, Federbehängen und Muschelschmuck. Er ging neben Schwindlige Robbe und redete übertrieben gestikulierend ununterbrochen auf ihn ein. Schwindlige Robbe sah gelangweilt aus.
Berufkraut schaute wieder nach vorn und furchte beim Weitergehen die Stirn. Seltsam. Seit seinem Gespräch mit Sonnenjäger verstand Berufkraut die Verachtung seines Großvaters Klebkraut gegenüber.
Klebkraut vermittelte einem nicht das Gefühl, daß eine Macht bei ihm war. In seinen Augen war keine Glut, ganz anders als bei Sonnenjäger. Er bewegte sich nicht mit Sonnenjägers Anmut. In den Tagen vor dem Angriff der Mammuts hatte Berufkraut sehr viel Zeit damit verbracht, Sonnenjäger zu beobachten, und der Mann hatte ihn erstaunt. Er schien über jeden Schritt, den er tat, jede Bewegung seiner Hand vorher nachzudenken, als achtete er darauf, nicht versehentlich einen der winzigen Geister zu verletzen, die die Welt um ihn herum erfüllten.
»Nun, ich sehe nicht ein, warum wir so weit wandern müssen«, durchbrach Klebkrauts harte Stimme Berufkrauts Träumerei. Widerwillig drehte er sich um. Er wollte wissen, was los war.
Mit äußerster Höflichkeit antwortete Schwindlige Robbe: »Ich bin sicher, wenn Melisse den richtigen Platz für uns gefunden hat, werden wir anhalten. Diese Dinge brauchen Zeit. Wir sind nicht wie die Leute vom Binnenland. Wir mußten bisher kaum je wandern. Es erfordert große Sorgfalt, den Ort für ein neues Dorf auszuwählen.«
»Ha!« höhnte Klebkraut. »Wie, denkst du, hat Melisse die letzte Stelle ausgesucht? Erinnerst du dich, Schwindlige Robbe?« Klebkraut breitete die Arme weit aus, als bäte er Bruder Himmel um Regen.
»Das war vor zwanzig Jahren. Er war das Laufen leid. Er hat weit nach hinten ausgeholt, seinen Speer geschleudert, und wo er niederging, da haben wir angehalten. Von wegen große Sorgfalt. Ich bin froh, daß der Speer nicht im Ozean gelandet ist. Wir wären alle Verwandte der Fische geworden, und mittlerweile wären uns Kiemen gewachsen.«
Melisses weise Augen verengten sich zu Schlitzen. Wie ein wütender Bär brüllte er: »Wenn ich noch mehr solches Geschwätz höre, Klebkraut, dann solltest du dir wirklich besser Kiemen wachsen lassen.
Aber mit der Geschwindigkeit einer Elritze.«
Alle Gespräche im Zug verstummten sofort. Die Klanältesten legten die Hände an die Ohren, um besser zu hören, und die Frauen am Ende des Zuges rannten vor, um die anderen einzuholen. Ihre schweren Lasten hüpften und schwankten auf dem Rücken hin und her.
»Drohst du mir, Melisse?« fragte Klebkraut.
»Ich drohe niemals, Klebkraut. Ich sage etwas und halte es.«
Klebkraut zog die Brauen über der Hakennase zusammen. Er verharrte plötzlich und zwang so die Leute hinter ihm, ebenfalls stehenzubleiben. »Also, wann werden wir anhalten, Melisse? Wir sind alle müde. Sicherlich weißt du das. Wir laufen jetzt seit sieben Tagen hintereinander.«
»Wir haben zwei Tage lang gerastet, während dieses merkwürdigen Schneesturms«, korrigierte ihn Berufkraut.
»Ja, der war wirklich merkwürdig«, sagte Schwindlige Robbe und
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