Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
deine Mutter vermisse. Sie ist die einzige Frau, der ich je meine Seele öffnen konnte. Als sie starb, habe ich einen Teil meiner selbst verloren.«
»Du kannst mit mir sprechen, Großmutter. Ich würde nie etwas weitersagen …«
»Nein, das weiß ich.« Ihre Miene nahm einen düsteren Ausdruck an. Klebkraut hatte den Kreis verlassen und schüttelte sich wie eine Antilope, die versucht, die Hörner abzuwerfen. »Hört!« schrie er. »Hört alle!«
Der Tänzerkreis kam zum Stehen, und ein ängstliches Gemurmel erhob sich. Balsam warf einen Blick über die Schulter und suchte Berufkraut und Sumach. Berufkraut nickte seinem Bruder zu und und machte eine Geste zu Klebkraut hin, um seinem Bruder damit anzudeuten, daß auch er zuhören solle.
Angeekelt wandte Balsam sich ab. Er verabscheute Klebkraut ebensosehr, wie Berufkraut es tat.
Flüsternd sagte Sumach: »Ich frage mich, was er jetzt vorhat.«
Klebkraut preßte den Kopf stöhnend zwischen die Hände. »Ich sehe Tod und Zerstörung. Oh, es ist schrecklich!«
»Was für Neuigkeiten«, kommentierte Sumach uninteressiert.
Schwindlige Robbe verließ den aufgebrochenen Kreis und murmelte etwas Unehrerbietiges, während er zu den Bäumen ging, um sich dort Niederzukauern. Berufkraut bemerkte, daß drei Älteste gegen drei standen: Yuccadorne, Frauenhaar und Gepardenschwanz auf Klebkrauts Seite und seine Großeltern und Schwindlige Robbe auf der Sonnenjägers.
Klebkraut hob die Stimme zu einem Brüllen: »Sonnenjäger ist die Ursache. Ich habe es euch gesagt.
Mammut-Oben spricht in diesem Moment mit mir. Hört ihr nicht ihre Stimme? Sie ist so laut.« Er preßte die Fäuste auf die Ohren und schwankte. Die Umstehenden rangen nach Atem und traten mit aufgerissenen Augen zurück. »Ich halte es nicht aus. Oh, macht, daß es aufhört!«
»Wahrscheinlich hast du Blähungen!« rief Sumach. »Dein Gedärm rumpelt so laut, daß du dich selber nicht hören kannst. Du hattest schon immer einen schwachen Magen, Klebkraut.«
Die alte Yuccadorne drehte sich um und starrte Sumach wütend an, dann kreischte sie: »Mach weiter, Klebkraut! Was sagt Mammut-Oben?«
»O dieser Schmerz. Sie sagt, daß Sonnenjäger niemals ihr Träumer war. Er hat diese Ehre zu Unrecht für sich beansprucht, und nun wird er bestraft, weil er gelogen hat. Weil er gelogen hat!«
Melisse verließ den Kreis und humpelte zu Sumach und Berufkraut. Balsam lief mit angstvoll geweiteten Augen hinter ihm her.
Berufkrauts Augen verengten sich. »Denkst du wirklich, sie glauben ihm, daß er träumt, Großmutter?«
»Ja, Enkel. Das glauben sie. Im Moment würden sie alles glauben, was sie vielleicht durch diese schreckliche Zeit führen könnte. Egal, was …
»Ja, egal, was es ist«, beendete Melisse den Satz, setzte sich neben Sumach nieder und küßte sie auf die Wange. »Wenn jemand ein Stück Mammutmist vom Pfad aufheben und diesen Leuten erzählen würde, er könne aus den Krümeln des Mists die Wege der Zukunft deuten, nun, dann würden sie sich spontan niedersetzen und auf die Belehrung warten.«
Berufkraut lachte leise.
»Lach nicht«, ermahnte Melisse ihn. »Das war kein Witz. Die Leute haben Angst. Sie werden sich an jeden Träumer klammern, der ihnen eine bessere Zukunft verspricht.«
Balsam hievte sich neben Berufkraut auf den Fels. Sein rundes Gesicht war vom Tanzen ganz rot. Er sagte:, Aber schau doch, wer da zuhört, Großvater. Sie sind alle dumm! Es sind die alte Yuccadorne und ihre Freunde. Was wissen die schon?«
Melisse antwortete freundlich: »Eine ganze Menge, mein Enkel. Ohne diese Leute gäbe es überhaupt kein Dorf.«
»Warum nicht?« fragte Balsam.
»Sie haben die Macht, dieses Dorf in der Mitte zu spalten. Sie werden es tun, wenn sie sich entscheiden, Klebkraut zu folgen, denn ich kann ihm nicht folgen. Träumer, selbst falsche Träumer, haben sehr viel Macht. Ich werde die nehmen müssen, die mir folgen, und irgendwo anders ein neues Dorf bauen.« Seine Stimme klang traurig. »Ich will, daß alle unsere Leute zusammen sind. Sie sind meine Verwandten, und sie bedeuten mir sehr viel. Ich weiß nicht, wer ich ohne sie wäre. Ich brauche sie in meinem Leben.«
Berufkraut warf ein: , Aber, Großvater, warum sollen wir sie nicht gehen lassen? Es ist vielleicht besser …«
Melisse schüttelte den Kopf. »Es wäre nicht besser. Dies sind wichtige Menschen. Verzweifelte Menschen. Wenn ein Oberhaupt der Verzweiflung keine Aufmerksamkeit schenkt, dann ist er kein
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