Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
wurde mit vielen der zu zeremoniellen Anlässen benutzten Farben vermischt. Die Schattierung des Wassers änderte sich, je weiter das Auge sich von der Küste entfernte. In der Nähe des Strandes war das Wasser graugrün, jenseits der Insel dagegen tiefblau gefärbt.
»Legt sie in die Astgabel«, sagte Sumach.
Balsam mußte die Bahre hoch über den Kopf heben und sich auf die Zehenspitzen stellen, damit Berufkraut sie annehmen und zwischen den dicken Ästen verkeilen konnte. Um ihn herum raschelten leuchtend grüne Blätter im Wind. Möwen kreisten in riesigen Schwärmen am Himmel. Sie würden sich von Bergsees Körper nähren, genauso wie die Raben, Elstern und Riesentruthahngeier.
Sumach sah mit tränenüberströmtem Gesicht zu. »Zieht jetzt die oberste Haut über ihr Gesicht.«
Berufkraut zog zärtlich die Haut hoch und schlug sie um den Kopf seiner Schwester ein. »Mach dir keine Sorgen, kleine Schwester«, flüsterte er. »Mutter und Vater werden dich abholen. Sie werden mit dir und den Donnerwesen zum Land der Toten fliegen.«
Balsam stieß plötzlich einen Schrei aus und hob die von ihm geschnitzte Puppe hoch. »Berufkraut!
Bitte! Kannst du das zu ihr unter die Haut legen?« Er kletterte den Espenstamm zur Hälfte empor, um Berufkraut die Puppe zu geben. »Ich weiß nicht, ob es im Land der Toten Spielzeug gibt. Vielleicht braucht sie das.«
Berufkraut nahm das Figürchen aus Balsams Hand und legte es sanft auf Bergsees Brust. »So. Da sieht sie sie gleich, wenn sie aufwacht.«
Dann kletterte Berufkraut hinunter. Sie mußten noch eine Weile warten, während der auch die anderen Dorfbewohner ihre Toten in den Bäumen bargen, bevor die Totenzeremonie beginnen konnte. Melisse erhob sich von seinem Platz zwischen den Tannen am Rand der Versammlung und hinkte an Sumachs Seite. Sein Gesicht war von tiefem Schmerz erfüllt. Die buschigen grauen Augenbrauen waren über der geschwollenen Nase zusammengezogen. Sein schulterlanges graues Haar hing offen. Er nahm Sumachs Hand fest in die seine und ließ den Blick über die Bäume schweifen. Bemalte Häute blinkten durch das Gewebe der Zweige. Die Gebetsfedern, die von den Bahren herabhingen, drehten sich flatternd im Wind.
»Die Grabstätten sind wunderschön, nicht wahr? So viele Farben.«
Sumach wischte sich die Tränen von den Wangen und nickte. »Ja. Unsere Verwandten im Land der Toten werden stolz sein.«
Melisse streckte eine Hand aus und klopfte Berufkraut und dann Balsam auf die Schulter. »Vielen Dank, ihr beiden, daß ihr Bergsee zu ihrer Ruhestätte getragen habt. Ich hätte euch helfen sollen. Ich war nur nicht… nur nicht richtig bei mir.«
»Wir haben unsere Schwester geliebt«, erwiderte Berufkraut. »Wir wollten es tun, Großvater.«
Sumach preßte zärtlich Melisses Hand. »Das Gewicht der letzten Wochen würde jeden niederdrücken.
Du brauchst einfach noch etwas Ruhe, mein Mann.«
»Ach, Ruhe werde ich nun lange nicht mehr haben. Morgen packen wir unsere Häute und unsere paar Sachen zusammen und verlassen diesen Ort.«
»Um nach einem Platz für ein neues Dorf zu suchen?«
»Ja, es hat keinen Sinn, noch länger hierzubleiben …«, antwortete Melisse, »jetzt, wo das Begräbnis fast vorbei ist.«
Berufkraut wechselte einen Blick mit Balsam, und beide seufzten. Sie waren hier geboren. Ein Teil ihrer Seele lebte in diesen Tannen, diesen Felsen, dieser Brandung. Von hier wegzugehen, würde für sie wie ein kleiner Tod sein.
Die Leute versammelten sich allmählich um das große zentrale Feuer und warteten auf den Beginn des Rituals. Schließlich schritt Klebkraut würdevoll vor die Versammlung und hob seine mageren Hände zum Himmel. Er trug ein feines, mit dichten Fransen besetztes Hemd aus Wapitileder und protzige, mit großen purpurfarbenen und gelben Dreiecken bemalte Hosen. Er erhob seine alte Stimme und sang: »Ya ahe yaa ee ya eye na! Kommt näher, kommt näher! Seht ihr, wo unser heiliger Vater Sonne läuft?« Er zeigte zum westlichen Himmel. »Er läuft im blauen Kleid des Tages. Wir wollen sein Lobpreis singen! Wir wollen ihn bitten, unsere geliebten Verwandten mitzunehmen, wenn er über das Meer zum Land der Toten reist. Ya ahe yaa ee ya eye na! Kommt näher! Kommt näher!«
Berufkraut legte einen Arm um Balsams Schultern und hielt ihn fest, während sie die Seele ihrer kleinen Schwester zum Land der Toten sangen.
Melisse stand neben Sumach. Seine Lippen bewegten sich kaum, und er hatte die Augen auf Bergsees Grabstätte
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