Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
geheftet. Mit jedem Flattern der Gebetsfedern schien sein Gesicht mehr einzufallen, als reiste seine Seele zurück zu den Tagen, als sie mit Stock und Reifen spielte oder seinen ersten Erzählungen lauschte. Vor dem Hintergrund des grünen Meeres erinnerte seine gebeugte Haltung Berufkraut an Großvater Kurzschnauzenbär, der in den von der Flut zurückgelassenen Tümpeln nach schwarzen Seeohrschnecken sucht.
Klebkraut klatschte in die Hände und rief: »Gebt euch die Hände!« Er nahm die Hände der zwei Personen, die ihm am nächsten standen, und diese wiederum reichten ihre Hände den Nächststehenden.
Berufkraut berührte Balsam am Arm und sagte leise: »Stell dich an Großvaters linke Seite. Er wird es niemals zugeben, aber er braucht Hilfe, um auf den Beinen zu bleiben. Ich werde mich an Großmutters rechte Seite stellen und ihr beistehen.«
Balsam nickte. Er war beeindruckt von der Verantwortung, die ihm auferlegt wurde. »Ich verstehe.«
Als alle um das Feuer einen einzigen großen Kreis gebildet hatten, führte Klebkraut den Totentanz an.
Berufkraut stützte seine Großmutter, während er sich mit im Kreis drehte und zusammen mit den anderen die Beine vorschleudernd auf und ab sprang. Sumach war, wie er befürchtet hatte, am Rande des Zusammenbruchs. Sie weinte, als würde sie nie wieder aufhören.
»Großmutter!« Berufkraut beugte sich zu ihr hinab und flüsterte: »Ich möchte dich zu einem Platz bringen, wo du dich setzen kannst. Bergsees Seele hat sich schon erhoben und wartet auf das Kommen der Donnervögel. Ich spüre es.«
Sumach nickte. »Ja. Ich auch. Einverstanden.« Sie wankte aus dem Kreis, und Berufkraut führte sie sanft zu einem flachen Felsen auf dem Strand und half ihr, sich auf einen der windgeglätteten Steine zu setzen. Dann setzte er sich neben sie. Im kühlen Morgenwind schlugen die langen Zöpfe gegen sein Hemd aus Bockleder. Klebkraut warf ihnen vom Kreis her finstere Blicke zu, als ob ihr Weggehen die Geister beleidigt hätte. Der alte Narr. Außer ihm schien keiner daran Anstoß zu nehmen. Sie alle wußten, wie der Kummer einen Menschen schwächt und daß die Geister Verständnis haben würden.
»Du bist ein guter Enkel, Berufkraut«, sagte seine Großmutter mit vibrierender Stimme. Sie wischte die Tränen mit den Ärmeln ab. »Dein Großvater wird dich in den kommenden Wochen brauchen.
Dringend brauchen. Bitte denke daran.«
»Warum, Großmutter? Ich bin noch nicht mal ein Mann. Warum sollte Großvater …«
»Weil Melisse die Dinge so sieht wie niemand sonst. Er denkt, daß du ein Mann bist.« Müde bewegte sie die Hand. »Sowieso hast du ja vielleicht ein Mammut getötet. Niemand weiß, was aus dieser Kuh wurde, der Sonnenjäger in den Wald gefolgt ist. Wenn sie mit deinem Speer im Fleisch starb, dann bist du ein Mann.«
Daran hatte Berufkraut noch gar nicht gedacht. Seine Augen weiteten sich. Sonnenjäger hatte ihn einen Mann genannt. »Wozu braucht mich Großvater denn?«
»Du mußt ihm helfen.« Sumach wies mit ihrem runzligen Kinn zum Tanzkreis. »Du kannst es auch fühlen, oder? Die Leute wenden sich gegen Sonnenjäger, obwohl dein Großvater ihn noch unterstützt.
Wenn Sonnenjäger nichts tut, um das Blatt zu wenden, wird Melisse mit ihm untergehen.« Sie sah Berufkraut mit ihren altersblassen Augen fest an. »All die Leute, auf die Melisse sich in der Vergangenheit verlassen hat, werden von ihm abfallen und sich allmählich Klebkraut und seinem idiotischen Gebrabbel zuwenden. Du, mein Enkel, wirst der einzige Mann sein, auf den er sich verlassen kann.«
Berufkraut tätschelte nervös Sumachs Hand. »Du weißt, daß ich Großvater helfen werde, wo ich nur kann.«
»Ja, sicher. Darum sage ich dir das ja. Und du tust mir einen großen Gefallen, wenn du diese Unterhaltung für dich behältst. Dein Großvater würde meine Einmischung in seine Angelegenheiten nicht gut aufnehmen.«
Eine Spinne krabbelte neben Berufkrauts linkem Mokassin über den Sand. Es war eine große, graue Spinne mit den längsten Beinen, die er je gesehen hatte. Als er den Fuß bewegte, sprang die Spinne zurück und huschte blitzschnell in eine Felsspalte. »Mag sein, daß ihm Einmischung nicht paßt«, bemerkte Berufkraut, »aber einen guten Rat akzeptiert er. Und den hast du ihm immer gegeben. Mutter hat oft davon gesprochen. Sie sagte, du seist das Fundament, auf dem Großvater sicher und kraftvoll steht.«
Sumach hakte sich mit zuckenden Lippen bei ihm ein. »Heilige Geister, wie ich
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