Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
hingelegt und war eingeschlafen?
Als Turmfalke auf das Mammut zuging, lief es wieder los, den Pfad hinunter. Hinter ihm wurden die Nebelschwaden zu silbrigen Spiralen aufgewirbelt.
Turmfalke folgte wie eine Schlafwandlerin.
Klebkrauts mageres Gesicht schimmerte orangefarben im Licht eines kleinen Feuers. Er hatte sein Lager weitab von den anderen im tiefen Wald aufgeschlagen, wo er allein war. Sich so abzusondern, hätte man bei jedem anderen für merkwürdig gehalten, nicht jedoch bei einem Träumer. Die hatten besondere Privilegien, wenn es um Abgeschiedenheit ging. Der stechende Geruch von Bärenkot und zertrampeltem Gras lag in der Luft. Die Bäume beugten sich vor, als beobachteten sie jede seiner Bewegungen. Er konnte sie untereinander flüstern hören; sie waren von seiner Macht verängstigt.
Klebkraut blickte finster zu den raschelnden Zweigen hinauf, die ein Dach über seinem Kopf bildeten.
Durch die Zweige hindurch sah er Ausschnitte des sternenbedeckten Himmels. »Seid still!« sagte er zu den Bäumen. »Ihr könnt gar nichts machen. Ihr stört meine Konzentration.«
Er beugte sich wieder über das Labyrinth. Seine Hand war schwer geworden. Sie fühlte sich taub an, und er konnte sie kaum noch heben. Leise singend zog er mit einem Holzkohlenstück neue Linien. Sie kreuzten die alten und versperrten einige Durchgänge, die nun abrupt abbrachen, als endeten sie an einer Mauer. Seine Seele hatte den Körper verlassen und schwebte beobachtend und leitend über ihm.
»Bald werde ich Riesenwolfs Beine haben«, flüsterte er heiser. »Letzte Nacht habe ich es fast geschafft. Heute nacht werden sie wachsen. Ich spüre es schon. Dann kann ich weglaufen, weit weg.
Und Sonnenjäger finden …«
Plötzlich kam Wind auf. Die Zweige der Bäume schlugen gegeneinander und überschütteten ihn mit kleinen, grünen Blättern. Die Büsche stimmten in den Lärm ein und schwankten zischend hin und her.
Sie machten einen solchen Spektakel, daß Klebkraut schließlich taumelnd aufstand und schrie: »Hört her! Ihr könnt nichts tun, um mich aufzuhalten. Ihr könnt nichts tun. Ich werde Riesenwolf sein.«
Eine Sternschnuppe fiel, eine silberne Bahn hinter sich herziehend, vom Himmel. Klebkraut schluckte schwer. Hexen reisten in Gestalt von Sternschnuppen. Konnte eine längst verstorbene Hexe aus dem Land der Toten herabsteigen, um mit ihm zu sprechen? Angstvoll wartete er.
»Mein ganzes Leben lang habe ich das getan, was andere von mir wollten«, murmelte er. »Ich habe Frauen geheiratet, die ich verabscheute, weil meine Mutter mir befahl, sie zu heiraten. Dann …« Er starrte die Büsche und Bäume an, die ihn beobachteten. »Ich … ich wollte immer ein Träumer sein, aber Klanälteste wie Melisse haben es nicht zugelassen. Sie haben mir gesagt, daß ich nicht dafür geeignet sei, daß Träumer sich von Geburt an von allen anderen unterscheiden, aber nicht so wie ich, sondern so wie Sonnenjäger. Selbst als ich nach dem Tod von Wandernder Lachs ein Träumer wurde, hat keiner der Ältesten in der Ratsversammlung von dem neuen Träumer gesungen und gesprochen, keiner kam, um mir seine Gebete anzubieten oder Klanprobleme mit mir zu besprechen. Keiner hat jemals nach meinem Rat gefragt… bis ich begann, dieses Labyrinth zu zerstören.« Er war überrascht, als er merkte, daß ein Schluchzen in seiner Kehle steckte.
Der Wald wurde still, und der Wind hielt den Atem an. Klebkraut blinzelte und warf einen Blick in die Runde, auf die ruhig dastehenden Eichen und Kiefern. Das Sternenvolk schimmerte mit seinen eisigen Strahlen. »Jetzt versteht ihr, oder? Deswegen hört ihr mir zu. Ich habe Macht bekommen. Niemals war ich glücklich. Weil ich immer ohne Macht war. Und nun, da ich die Macht gefunden habe, wird niemand - kein Mensch, kein Tier und kein Geist - sie mir jemals wieder wegnehmen.
Ich werde Riesenwolf sein, und wenn es soweit ist, dann müssen die Leute das tun, was ich ihnen sage. Niemand wird es wagen, mich anzuschreien oder zu behaupten, daß ich nutzlos sei.«
Eine weitere Sternschnuppe schoß leuchtend über Bruder Himmels schwarzen Bauch, und Klebkraut hob grüßend eine Hand. »Kommst du, um mit mir zu sprechen? Bist du das, alte Kaktus-Eidechse?
Komm! Ich möchte die Dinge lernen, die du gewußt hast. Komm und sprich mit mir! Ich werde auf dich warten.«
Wieder fuhr ein Windstoß durch den Wald, raschelnd schlugen die Äste der Bäume gegeneinander.
Die Büsche schienen Klebkraut anzuzischen, doch er
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