Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
Männchen würden nach der Paarung sterben.
Weiter unten im Haufen traf er auf eine Schicht flügelloser Weibchen. Diese sammelten Futter und kümmerten sich um die Eier. Er und die anderen Mitglieder des Talth-Bundes beobachteten die Ameisen mit großer Genauigkeit und äußerster Geduld. Sie zeichneten ihre Lebenszyklen auf und verfolgten, wie sie kämpften, töteten, Nahrung heranschleppten und sich mit einer Sanftheit berührten, die der der Menschen in nichts nachstand. Einige der Arbeiterinnen lebten fünf oder sechs Jahresumläufe lang, wie er wußte, die Königinnen dagegen überdauerten fünfzehn Jahresumläufe.
Die Ameisenarbeiterinnen bewegten sich in der Kälte nur langsam. Sonnenjäger nahm den Korb und schaufelte etwa drei Dutzend von ihnen hinein, dann schloß er den Deckel, bevor eine von ihnen entkommen konnte. Er legte den Korb und das Schulterblatt in sein Bündel zurück, band es wieder zu und erhob sich.
Auch Helfer stand mit gespitzten Ohren auf. In den dunklen Augen des Hundes stand Sorge.
»Es ist alles in Ordnung, Helfer. Ich habe das schon vorher gemacht. Die Ameisentortur ist das erste, was die Neulinge im Talth-Bund lernen. Aber ich verstehe deine Sorge«, sagte er, als er den Weg, den sie gekommen waren, zurückging. Der feuchte Sand verursachte ein schmatzendes Geräusch unter seinen Mokassins. »Lange Zeit schon habe ich zum Träumen keine Ameisen mehr benötigt.«
Helfer trottete an seine Seite und schaute zu ihm auf, als warte er auf den Rest der Geschichte.
Sonnenjäger zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Als ich ein Junge war, kamen die Träume mühelos und mit überwältigender Macht. Dann, im letzten Monat…«
Der Hund lief neben ihm her.
»Was ist los mit mir, Helfer? Warum kann ich nicht mehr träumen? Ich kann nur beten, daß die Ameisen helfen.«
Sonnenjäger blickte nach Westen. Über dem Meer schimmerte die Nebelbank gelblich. Er konnte die Grenze zum Land der Toten nicht sehen, sich aber vorstellen - dunkles Blau, das unter den vorbeiziehenden Wolken mit hellem Blau verschmolz. Leise betete er: »Bitte, Wolfsträumer, hilf mir!
Ich muß wieder träumen.«
Helfer rannte plötzlich los und schoß wie ein Speer den Pfad hinab und auf die Felsenhöhle zu.
»Helfer! Helfer! Was ist los?«
Der Hund verschwand im wabernden Nebel. Sonnenjäger hörte ihn winseln und bellen. Dann war er still.
Sonnenjäger begann an der Kante des Kliffs entlangzulaufen und horchte angestrengt.
Unten schlugen die Wellen gegen das Kliff. Die Flut kam und füllte die felsigen Tümpel mit leuchtend bunten Seeanemonen, Schnecken und Einsiedlerkrebsen. In der Luft krächzten und kreischten die Seemöwen, und hoch über sich hörte er einen Kondor schreien.
Dann vernahm er das Weinen. Er hielt an, um zu lauschen, und der Nebel zog Wirbel um ihn.
»Ein Baby? Es klingt so.«
Die buschigen, schwarzen Augenbrauen zusammengezogen rannte er wieder los. Je näher er kam, desto eher klang es so, als kämen die Schreie aus seiner versteckten Felsenhöhle. Mit klopfendem Herzen ging er wachsam weiter.
Aufmerksam betrachtete er die Kante des Kliffs. Das Eindringen in die Felsenhöhle war nur möglich, wenn man den versteckten Zugang genau kannte. Der Nebel machte die Aufgabe sogar noch schwieriger. Niemand konnte die Höhle ohne Führung gefunden haben.
Pst, sei ruhig. Vielleicht hat Mammut-Oben dir jemanden zu Hilfe geschickt. Ja, das muß es sein.
Aber… ein Baby?
Sonnenjäger erspähte die drei Felsbrocken neben den alten Baumstümpfen. Die Bäume waren irgendwann vor langer Zeit vom Blitz getroffen worden. Nun waren nur noch die verkohlten, wurmzerfressenen Überreste zu sehen. Von dort aus zählte er die Zacken entlang der Kante des Kliffs. Vor, zurück, vor, zurück …
Er hielt inne, als er die Spuren des Mammuts im weichen Sand entdeckte. Schnell drehte er sich um die eigene Achse, doch der Nebel bedeckte alles, was mehr als drei oder vier Körperlängen entfernt war.
»Mammut!« rief er verhalten. »Bist du dort? Bist du gekommen, um mit mir zu sprechen?«
Keine Antwort. Er stand noch eine Weile lauschend da, dann begann er wieder mit dem Zählen der Zacken. Unterhalb des Kliffs brach sich die Brandung und schleuderte weiße Gischt an den Felsen empor.
Bei der sechzehnten Zacke fand er die winzige Vertiefung im Felsen. Er benutzte sie als Halt für die Finger, legte sich auf den Boden und ließ sich langsam und mit äußerster Vorsicht über die
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