Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
faltigen, alten Kinn auf den zweiten Zeltplatz. Milan hatte die Steinaxt und den Hämmerstein, mit denen er die Pfosten unten angespitzt hatte, beiseite gelegt und kam quer durch das Lager auf Melisse zu. Wie groß der junge Mann war. Fast so groß wie Sonnenjäger. Er hatte das schwarze Haar nicht zusammengebunden, und beim Gehen wippte es auf und ab und verdeckte zum Teil seine breite Stirn.
Melisse hob grüßend eine Hand. »Guten Tag, Milan.«
»Guten Tag, Melisse«, sagte Milan und ließ sich mit untergeschlagenen Beinen am Feuer nieder. Die flackernden Flammen spiegelten sich in seinem roten Hemd wider wie auf einer Wasseroberfläche. Er kniff die kleinen Augen zusammen und sagte: »Ich hoffe, ich störe dich nicht, Melisse. Gestern nacht warst du so müde, daß ich dich nicht länger belästigen wollte, aber ich würde mich freuen, wenn wir nochmals miteinander sprechen könnten.«
»Natürlich. Was mußt du noch wissen?«
Milan strich sich das Haar aus dem Gesicht. Als er die Hände dem wärmenden Feuer entgegenstreckte, glitzerte das aus Muschelschalen aufgestickte Zackenmuster an seinen Ärmelaufschlägen. »Meine Brüder und ich haben uns letzte Nacht besprochen. Wir möchten dich um die Erlaubnis bitten, noch einen halben Mond hierzubleiben.« »Um auf Turmfalke zu warten?«
»Ja. Wir sind sicher, daß sie bald hier eintreffen wird. Eine Gruppe Jäger war hier, während du im Wald Stämme geschlagen hast. Sie sagten, sie hätten sie nicht gesehen. Und sie haben auch niemanden getroffen, der sie gesehen hat. Das schränkt die Zahl der Dörfer ein, in denen wir suchen müssen.«
»Warum bist du so sicher, daß sie hierherkommen wird? Vielleicht hat sie sich ja auch in die Berge gewandt. Dort gibt es viel mehr Dörfer als hier unten an der Küste. Und vielleicht hat auch ein Säbelzahntiger sie erwischt. Wer kann das schon wissen?«
Milan schlang die Arme um ein Bein. »Schon möglich. Aber wenn sie noch lebt, dann ist es gut möglich, daß sie auf der Suche nach ihrer Familie hierherkommt. Ihr Mann, der Händler Stechapfel…«
»Der Verrückte?«
Milan nickte. »Ja, er ist so böse wie ein verrückt gewordenes Stinktier, aber ich bin sicher, daß er nicht gelogen hat, als er sagte, daß der Geliebte seiner Frau Verwandte an der Küste hatte. Stechapfel glaubt, daß Turmfalke bei diesen Leuten Zuflucht suchen wird, beim Otter-Klan.«
»Vielleicht findet sie Mitglieder des Otter-Klans, bevor sie dieses Dorf erreicht.«
»Möglich.«
Melisse setzte die Füße in den feucht gewordenen Mokassins auf den warmen Steinring, der das Feuer einfaßte. »Diese Jäger, sind sie einfach auf dem Weg zur Jagd hier vorbeigekommen, oder hatten sie einen besonderen Grund?«
»Sie waren auf der Suche nach Sonnenjäger. Sie sagten, daß ihr Dorf vor kurzem von einer Krankheit befallen worden sei und sie einen Heiler brauchten. Klebkraut erklärte ihnen, daß Sonnenjäger hier lange nicht mehr gesehen worden sei. Die Jäger sind noch eine Weile hiergeblieben, um sich zu unterhalten, dann brachen sie auf.«
»Ah ja.« Wieder eine neue Krankheit? Heilige Mutter Ozean, schütze uns davor. Wir haben so viele kleine Kinder in unserem Dorf.
Sumach kniete sich neben Melisse nieder und betrachtete Milan finster. »Und was wirst du tun, Milan, wenn wir beschließen, Turmfalke Zuflucht zu gewähren? Sie ist mit einem Neugeborenen auf der Flucht. Wir werden uns ihre Version der Geschichte anhören, bevor wir etwas beschließen, und wenn sie gute Gründe hatte, ihrem Mann wegzulaufen und deinen Bruder zu töten …«
»Gute Gründe!« stieß Milan hervor und sprang auf. Sein Gesicht war von Ärger verzerrt. »Büffelvogel hätte nie etwas getan, um einen solchen Tod zu verdienen.«
Sumach neigte ohne Mitgefühl den Kopf. »Du bist sein Bruder. Natürlich denkst du das. Aber eine verzweifelte Frau mit einem kleinen Baby könnte vielleicht Dinge als Gefahr ansehen, die dir ungefährlich erscheinen. Vielleicht glaubte sie, ihr Kind verteidigen zu müssen.«
Milan stieß aus tiefer Kehle ein ungläubiges Schnauben aus, und Melisse legte einen Arm um Sumachs knochige, alte Schultern, um sie zu unterstützen. Dennoch fragte er sich, was er wohl tun würde, wenn er mit Turmfalkes Aussagen konfrontiert wurde. Konnte er ihr Zuflucht gewähren?
Konnte er das überhaupt tun? Selbst wenn sie völlig unschuldig wäre, hatte es doch schon so viele Gerüchte gegeben, daß die Hälfte der Nachbardörfer keinen Deut um ihre Version der
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