Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
Geschichte geben würden. Sie würden ihren Tod verlangen. Es wäre also ein großes Risiko, ihr Zuflucht zu gewähren.
»Aber es ist doch in Ordnung, wenn Milan und seine Brüder einen halben Mond bei uns bleiben?«
Sumach runzelte nachdenklich die Stirn. »Ja, wenn du es für richtig hältst.«
Milan nickte, und die Röte in seinen Wangen klang ab. »Wir sind euch dafür dankbar.«
Sumach stand auf und schloß sich der Frauengruppe an, die gerade die Häute zusammennähte, mit denen die Zeltrahmen überzogen werden sollten. Die Donnerwesen schössen durch die Wolken und ließen mit ihrem Krachen die Erde beben. In der Ferne bewegte sich ein durchscheinender, grauer Schleier über die Berge. Er kam schnell auf sie zu. Man sah, daß die Frauen sich beeilten, die Zelte fertig zu bekommen.
»Milan«, sagte Melisse ernst, »wenn Turmfalke aber innerhalb dieser Zeit nicht aufgetaucht ist, werden wir euch bitten, uns zu verlassen. Verstehst du? Wir wollen nicht noch mehr Ärger wegen dieser Sache.«
»Ich verstehe«, sagte Milan. »Wir werden ohne Widerrede weiterwandern.« Unbehaglich verlagerte er sein Gewicht auf den anderen Fuß, dann wollte er wissen: »Deine Frau … glaubt sie die Dinge nicht, die man über Turmfalke hört?«
»Vielleicht, aber für meine Frau ist das nicht ausschlaggebend. Sie ist eigensinnig. Selbst wenn man jemanden vor ihren Augen tötete, würde sie mich zwingen, dem Mörder Gelegenheit zu geben, seine Seite der Geschichte darzustellen.« Er schüttelte den Kopf. »Sie war schon immer so. Ich habe es nie verstanden. Aber ich respektiere sie dafür. Niemand kann behaupten, daß in diesem Dorf überhastete Entscheidungen über Recht oder Unrecht gefällt werden.«
Milan nickte, doch in seinen Augen lag ein unbarmherziges Glitzern. , Auch unser Klan wird verlangen, daß man ihm die Gelegenheit zur Entscheidung gibt.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen.«
»Wenn ihr Turmfalke für unschuldig befindet, werdet ihr sie dann also uns übergeben, so daß wir sie nach Hause mitnehmen und unserem Volk gegenüberstellen können?«
»Nein.« Melisse schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht gesagt. Ich weiß nicht, was wir in diesem Fall tun würden. Wir müßten darüber nachdenken.«
Milan zog eine Braue hoch. »Wenn du uns das Recht verwehrst, die Mörderin eines unserer Klanmitglieder zu richten, könntest du einen Krieg vom Zaun brechen. Ist dir das bewußt, Melisse?«
»Ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen.«
Milan verengte die Augen zu Schlitzen. »Dann, denke ich, ist es wohl das beste für uns alle, wenn ich versuche, Turmfalke abzufangen, bevor sie zu eurem Dorf kommt. Das wird euch eine solche Entscheidung ersparen. Bitte laß alle wissen, daß meine Brüder und ich zwei Zelte für uns errichten werden, eines auf jedem der Pfade, die hierherfuhren.«
Mit schneidender Stimme antwortete Melisse: »Wenn ihr es so wollt, dann tut es. Aber ihr solltet wissen, falls die Verwandten des Geliebten dieser Frau feststellen, daß ihr sie ohne triftigen Grund getötet habt, und Vergeltung von mir fordern, so werde ich gezwungen sein, meine Krieger auszusenden, um euch nachzujagen und zurückzubringen. Verstehen wir uns gegenseitig?«
Milan antwortete: »Es scheint, als würde diese merkwürdige Frau von der Seenplatte vielleicht einen Krieg auslösen, wie angestrengt auch immer wir versuchen, ihn zu vermeiden. Aber ich verstehe dich, Melisse.«
»Gut.«
Milan hob kurz eine Hand. »Ich habe mit eurem Träumer Klebkraut geredet. Er hat große Macht. So viel Macht, daß er mir Angst eingejagt hat.« Milan lachte nervös. »Er sagte, daß er Träume von schrecklichen Dingen hatte, die dieses Dorf heimsuchen. Ich hoffe, er hat damit nicht diesen Krieg gemeint.«
Melisses Füße waren allmählich unangenehm heiß geworden. Er nahm sie vom Steinring um das Feuer weg und stellte sie auf die Erde. Dann meinte er: »Das hoffe ich auch. Was hat Klebkraut noch gesagt?«
»Sehr wenig. Nachdem er unsere Geschichte über Stechapfels Frau gehört hatte, sagte er, er würde dafür sorgen, daß sie für ihre Verbrechen bestraft wird.« Milan holte tief Atem und ließ ihn langsam wieder entweichen, während er Melisse in die Augen starrte. »Er sagte, daß die meisten der Dorfältesten die Strafe befürworten werden, die er für angemessen hält. Ist das wahr? Hat Klebkraut so viel Einfluß?«
»Er hat Anhänger, ja.«
Milan nickte. »Danke für die Erlaubnis, einen halben Mond
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