Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
heran und stellte sie neben ihre Knie, dann schloß sie die Augen wieder und sah das Bild vor sich. Dieser Teil mußte vollkommen werden. Sie durfte keinen Fehler riskieren.
Gelb. Für dich, Sonnenjäger.
Das Gelb sollte den gewundenen Weg einfassen, der zum Herzen des Labyrinths führte. Wenn er fertig war, würde der Pfad schlangenartig gewundenen Blitzen ähneln. Ja, das war es. Um Sonnenjäger den Weg zu erleuchten.
Turmfalke öffnete die Augen und tauchte die Finger in die Farbe. Doch als sie den in vielen Schleifen gewundenen Pfad vom Rand des Labyrinths her zu zeichnen begann, erfaßte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung.
Der dunkelgraue Rüssel der Mammutkuh schlüpfte über die Kante des Felsens und wand sich zärtlich um Sonnenjägers nackten Fuß. Sie hielt ihn mit dem Griff einer Liebenden. Die Kuh stieß einen leisen, befriedigten Seufzer aus.
Turmfalke schaute zu ihr hinab und lächelte. Die Kuh hatte den großen Kopf zur Seite gelegt und drückte das hohe Gras nieder, damit sie Sonnenjäger ansehen konnte. Ihre kurzen Stoßzähne schimmerten. Das Kalb hatte seine Lage verändert und war neben den Hinterbeinen der Kuh eingeschlafen. Aus seinem Maul hingen Farnhalme.
Sonnenjäger schien die Berührung der Kuh nicht zu spüren, doch er hatte aufgehört zu singen. Sein Atem war so flach geworden, daß Turmfalke kaum das Heben und Senken seiner breiten Brust wahrnehmen konnte. Sie fühlte Angst in sich aufsteigen. Wie lange würde er träumen? Die ganze Nacht? Tagelang?
Es gab so vieles, was sie ihm sagen wollte …
So vieles, wovor sie Angst hatte.
Aber diese Dinge würden zumindest so lange warten müssen, bis er mit Wolfsträumer gesprochen hatte und besser wußte, wohin sein Pfad führte.
Er hatte ihr keine Gelegenheit gegeben, ihre Gefühle auszusprechen.
Und Turmfalke wußte, daß dies Absicht gewesen war. Er wollte sie beide schonen, denn er fürchtete genau wie sie, daß Wolfsträumer ihn bei ihrer nächsten Begegnung anweisen würde, eine der grausamen Techniken anzuwenden, die die Träumer in Tausenden von Jahresumläufen entwickelt hatten.
Turmfalke setzte den Finger an, um den Weg zu beenden, der zum Herzen des Labyrinths führte. Doch als sie Sonnenjäger berührte, erstarrte ihre Hand. Die Alke kreischten plötzlich auf, und die Mammutkuh hob den Kopf. Helfer knurrte und stand mit gesträubtem Rückenhaar da. Turmfalke starrte ihn bestürzt an, dann fühlte sie es auch: Am Rand ihrer Seele war ein Flattern wie von Samtflügeln zu spüren. Bebend spürte sie, wie die Macht von allen Seiten in sie hineinfloß. Sie kam von den Bäumen und Tieren, aus dem Felsen, auf dem sie saß, und aus der Luft. Turmfalke hatte sie nie vorher so stark empfunden. Wie wenn man einen halberfrorenen Fuß in warmes Wasser stellt, so wurde das Gefühl mit jedem Moment schmerzhafter. Es drang durch Zehen und Finger in sie hinein und stieg in ihr empor, bis ihr ganzer Körper in ein Kribbeln eingesponnen war.
»Heilige Geister …«
Turmfalke gelang es kaum, sich auf die Beendigung ihres Gemäldes zu konzentrieren. Mit zitternder Hand zeichnete sie den gelben Strang durch die roten Abschnitte, um das Schwarz herum und zwischen den weißen Linien hindurch. Mit äußerster Sorgfalt vermied sie es, eine der Linien zu kreuzen oder die Farben zu verwischen.
Als sie schließlich das Zentrum des Baums erreichte - das Herz des Labyrinths - tat ihr Arm so weh, daß sie ihn kaum noch halten konnte.
Die Dunkelheit hatte sich wie ein nebliger Holzkohlenschleier über das Land gesenkt. Mutter Ozean schlug gegen den Strand, als wüßte sie, daß Sonnenjäger träumte, und wollte ihn nicht stören.
Turmfalke ließ den Arm sinken und stieß die Luft aus.
Helfer kam näher und kroch dicht an die Mammutkuh heran. Er blickte Turmfalke wissend an. Dann wanderte sein Blick zu der Malerei auf Sonnenjägers breitem Rücken.
»Was denkst du, Helfer?«
Der Hund wedelte mit dem Schwanz.
Turmfalke fröstelte in dem kalten Wind, der raschelnd durch die Espen fuhr. Sie würde bald ein Feuer machen müssen. Doch für eine kurze Zeit noch wollte sie einfach nur dasitzen und ihr Kunstwerk anschauen. Das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben, wehte wie ein Frühlingswind durch ihr Blut.
Es war wunderbar, wieder malen zu können, als wäre wie durch Zauberhand ein amputiertes Glied am Körper wieder angewachsen.
Die leuchtenden Farben waren zu einem prachtvollen Gemälde vereint, die Farbstränge wanden sich nach innen und
Weitere Kostenlose Bücher