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Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste

Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste

Titel: Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gear & Gear
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Tannin.«
    Turmfalke humpelte an der ersten Hütte vorbei. Sie bestand aus einem Rahmen von Weidenstäben, der mit Stroh gedeckt war. Die Hütte erinnerte an einen zottigen Bären, der mit rundem Rücken über seiner Beute steht. Der Geruch von schwelenden Feuern, kochendem Fleisch und feuchten Fellen wehte zu ihr herüber.
    Die Dorfbewohner hatten sich vor einem großen Feuer auf dem Dorfplatz versammelt. Die Flammen schlugen hoch empor. Es sah so aus, als wäre das ganze Dorf dort etwa dreißig Erwachsene und zwei Dutzend Kinder. Knisternd und zischend stoben Funken über ihre Köpfe hinweg in den düsteren Himmel. Als Tannin einen Kriegsruf ausstieß, drehten die Leute sich um. Die Männer schüttelten brüllend ihre Kriegskeulen, während die alten Frauen weinten und sich die Haare rauften. Manche Mütter bedeckten die Augen ihrer Kinder, um sie vor dem Anblick der verruchten Turmfalke zu bewahren.
    Die Dorfältesten hockten zum Schutz vor dem Regen in verschiedenen Hütteneingängen. Ihre Gesichter waren verzerrt. Turmfalke versuchte, nicht die schönen geometrischen Muster anzusehen, die ihre Hemden verzierten. Sie selbst hatte die Stachelschweinborsten gefärbt und auf die Gewänder genäht. Jede Farbe kam von einer Geist-Pflanze, die verschiedene Krankheiten des Körpers oder der Seele heilte. Die Früchte des Feigenkaktus ergaben das tiefrote Purpur, Wacholderbeeren die Lohfarbe, Goldaster das Blaßgold, Sumachrinde das schöne Braun.
    Sie stolperte an Alte Bisonfrau vorbei, und ihre Blicke blieben an der orange-rosa Farbe hängen, die sie aus einer Mischung von Flechten und Stechpalmenbeeren gewonnen hatte. Als starker Tee heilte diese Mischung auch Verdauungsbeschwerden und linderte die Krämpfe der knochenschüttelnden Krankheit. Schon als Kind war sie von der inneren Notwendigkeit zu färben und zu malen besessen gewesen, als hätte Alter-Mann-Oben die Liebe dazu tief in sie hineingelegt. Ohne ihre Kunst konnte sie nicht leben. Und ihre Kunstwerke konnten ohne sie nicht leben, denn Turmfalke fügte jeder Farbe einige Tropfen ihres eigenen Blutes hinzu. Das weckte die Geister in den toten Pflanzen, und oft erwachten ihre Muster dadurch zum Leben. Nicht jedes ihrer Muster lebte, doch viele. Und jetzt, als sie vorwärts ging, konnte sie ihre Stimmen hören, leise und mitleidig, voll Ungewißheit über ihr Schicksal. Sie sagten ihr, sie solle fliehen, bevor es zu spät sei: Lauf… lauf…!
    Die Dorfältesten, ob Mann oder Frau, schauten zu Boden, als Turmfalke vorbeiging. Bezweifelte denn keiner von ihnen ihre Schuld? War sie denn schon gerichtet und verurteilt, ohne auch nur eine Gelegenheit zur Verteidigung bekommen zu haben? Sie war doch in ihrer Mitte aufgewachsen, hatte sie geliebt und ihnen vertraut. Würden sie nun einfach dastehen und in aller Ruhe zusehen, wie Turmfalke vor ihren Augen ermordet wurde?
    Als Turmfalke sich dem Feuer näherte, sah sie ihre Großmutter Weidenstamm und ihre Mutter Eulenfrau halbversteckt am Rande der Menge stehen. Obwohl keine von beiden zu Turmfalke blickte, konnte sie erkennen, daß über das gesenkte Gesicht ihrer Mutter Tränen liefen.
    »Mutter!« rief Turmfalke, während Tannin sie vorwärts zwang, »Mutter … bitte!«
    Eulenfrau preßte eine Hand gegen ihren Mund, damit er nicht zitterte, aber sie sagte nichts.
    »Bring sie hierher!« befahl Stechapfel.
    Er stellte sich in die Nähe der Flammen, die Arme über der breiten Brust verschränkt. Zwei kurze, graue Zöpfe hingen von seinem Kopf und rahmten die flache Nase und die Wangen ein. Er hatte fünfundvierzig Sommer erlebt. Das orangefarbene Licht, das über die Falten seines Gesichts tanzte, betonte sein Alter und flackerte eigenartig in dem Quarzkristall, das an einem Band über seinem Herzen hing. Er hatte das Band aus den Sehnen eines Mammuts geflochten - und behauptete, es sei stark genug, um einen Bison daran zu ziehen. Seine schwarzen Augen glühten triumphierend, als Turmfalke sich näherte.
    Ihr Herz schlug so heftig, daß sie dachte, es würde ihre Brust sprengen. Als sie noch drei Meter von Stechapfel entfernt war, umspielte ein grausames Lächeln seine Lippen. Er streckte einen Arm nach Norden aus. »Schau, es ist alles zu Ende!«
    Turmfalke drehte sich um und schwankte plötzlich, denn sie sah Eiskraut beim Feuer knien. Er hatte sein gutgeschnittenes Gesicht in die Hände gepreßt und wiegte sich vor und zurück. Ein langer, schwarzer Zopf hing über seine rechte Schulter. Hörte sie ihn wirklich

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