Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
Sonnenjäger, werde der Welt ihre frühere Reinheit zurückgeben. Wenn die Leute seinem Neuen Weg folgten, würden die Mammuts zurückkehren - zusammen mit all ihren Ahnen, die schon früher gegangen waren, würden sie aus dem Land der Toten wiederkehren, und die Erde würde unter ihren Tritten erbeben.
Wolfsträumer, der große Held, der die ersten Klans aus der Unterwelt der Dunkelheit in diese Welt des Lichts geführt hatte, hatte versprochen, zurückzukehren und das Volk zu führen. Aber er würde kein Mensch mehr sein, sondern eine um die Mammuts herumwirbelnde Staubspirale. Sonnenjäger hatte auf ein quadratisches Hirschleder ein Labyrinth gezeichnet, das er immer bei sich trug. Er sagte, es zeige den Weg zum Land der Toten. Er versicherte, daß jeder diesen Weg benutzen und seine Behauptungen überprüfen könne. Seine neue Lehre hatte sich ausgebreitet wie ein offenes Feuer im ausgedörrten Präriegras.
»Es ist kein Unsinn«, entgegnete Eiskraut mit unsicherer Stimme. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, und seine Augen flammten. »Sonnenjäger war im Land der Toten. Er hat mit den großen Führern unseres Volkes gesprochen. Wolfsträumer hat ihm gesagt…«
»Halts Maul, du Dreckskerl! Muß ich dich töten, um dich zum Schweigen zu bringen? Ist es das, was du willst?« brauste Stechapfel auf. »Ich könnte meine Meinung über dein Schicksal ändern.«
Eiskraut zögerte. Sein Kinn zuckte, doch er biß die Zähne zusammen. »Verstehst du nicht? Wir müssen uns ändern, zu den alten Wegen der Reinheit und Wahrheit zurückkehren.«
»Du wagst es, mir von Reinheit zu sprechen?« schrie Stechapfel mit schriller Stimme.
Das Ungeborene in Turmfalkes Leib bewegte sich so plötzlich, daß sie vor Schmerz aufstöhnte. Alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf sie. Wollte sie etwas sagen? Sie rieb mit der Hand über ihren Bauch. »Pst«, flüsterte sie mit erstickter Stimme, »pst, mein Baby, weine nicht!«
»Was hast du gesagt?« fragte Stechapfel. Als Turmfalke die Worte nicht wiederholte, schlug er sie mit der Faust in den Rücken, so daß sie in den Schlamm stürzte. »Steh auf, steh auf! Hörst du mich?«
»Ich höre dich, mein Mann.«
Turmfalke stützte sich auf die Knie, dann kam sie unsicher wieder auf die Beine. Schlamm überzog ihr Kleid. Sie fühlte keine Empörung, keinen Haß, nur ein nagendes Entsetzen. Nahe am Feuer hatte Eiskraut die Arme eng vor der Brust verschränkt, als wollte er einen Schmerz in seinem Herzen lindern.
»Ich bin ein Händler!« schrie Stechapfel mit gellender Stimme zur Menge hinüber, während er Turmfalke umkreiste. Die Menschen auf dem nassen Dorfplatz beobachteten ihn mit starrem Blick und unbewegten Mienen. Die Ältesten, die sich in den Hütteneingängen vor dem Regen geschützt hatten, zogen ihre mit Perlen bestickten Lederhäute über die Köpfe. »Ihr alle wißt das. So wie ihr wißt, daß ich nicht zu Hause war, vom Mond-der-sich-färbenden-Blätter bis zum Mond-des-fliegenden-Schnees.«
Die Regentropfen wurden größer, zerplatzten auf Stechapfels Lederhemd und blieben als funkelnde Perlen in seinen grauen Zöpfen hängen. Seine Stimme war tiefer und seine Bewegungen präziser geworden. Turmfalke spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Sie hatte seinen Vorführungen tausendmal zugeschaut. Er prahlte damit, daß er jede Handbewegung und jedes Neigen des Kopfes genau kalkulierte, um die Menge so zu beeinflussen, wie er es wollte. In ihrer Erinnerung hörte sie sein überhebliches Flüstern: »Das ist es, was mich zu einem berühmten Händler macht, Frau. Niemand kann mir verweigern, was ich will, wenn er mich sprechen gehört hat. Es ist Händler-Macht.« Nach außen hin schien er stark und umgänglich, war er niemals unbeherrscht. Nur sie kannte den wirklichen Stechapfel, das Monster, das mit der Dunkelheit geboren wurde.
Er hatte schreckliche Alpträume. Jede Nacht. Und sie waren in den vergangenen Jahresumläufen schlimmer geworden: Träume, die ihn aus tiefem Schlaf aufschreckten, so daß er keuchend erwachte.
Meist schlug er sie dann. Sie wußte nie, warum.
Stechapfel zog die Menge immer stärker auf seine Seite, schritt den Kreis der Menschen ab und legte seine geballten Hände auf die Schultern der Einflußreichsten, während er ihnen fest in die Augen sah.
Klanführer nickten ihr Einverständnis, und Turmfalkes Großtante weinte. Als Stechapfel herumwirbelte und hoch aufgerichtet zurückkam, sog Turmfalke die Luft ein. Wie betäubt
Weitere Kostenlose Bücher