Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
verfolgte sie, wie er ein Obsidianmesser aus dem Gürtel zog und sich auf sie stürzte. Er packte ihr regendurchweichtes Kleid, zerschnitt das weiche Leder vom Pelzkragen bis zum gefransten Saum und riß es mit einem Ruck auf, so daß ihr weit vorgewölbter Bauch sichtbar wurde.
Stolpernd suchte sie Halt, um nicht zu fallen. Strähnen ihres hüftlangen Haars klebten naß auf ihrem Oberkörper und verdeckten teilweise die milchschweren Brüste; der Rest ihres siebzehn Sommer alten Körpers war nun nackt dem peitschenden Wind ausgesetzt. Der Feuerschein überzog ihre Haut wie mit einer Schicht goldenen Kiefernharzes. Turmfalke sah, wie ihre Mutter vor Scham die Augen schloß.
»Nun, meine Frau, ich war den ganzen Herbst nicht da. Wer also hat dieses Kind gezeugt?« Stechapfel pochte ihr mit der Messerklinge gegen den Leib.
Turmfalke zwang sich, mit sicherer Stimme zu sprechen. »Du, mein Mann. In den ersten Tagen nach deiner Rückkehr. Ich bin noch nicht so weit, wie es aussieht. Ich glaube, ich bekomme Zwillinge.« Und tatsächlich, manchmal spätnachts, wenn die Welt still wurde, hätte sie schwören können, daß sie zwei Herzschläge in ihrem Schoß fühlte.
»Lügnerin!« schrie Stechapfel, doch er schien aus dem Gleichgewicht gebracht. Er stand reglos mit herabhängenden Armen da, die braunen Finger gekrümmt, und musterte sie scharf. Jahrelang hatte er ihr erzählt, wie sehr er sich nach einem Sohn sehnte. Nach wenigen Augenblicken warf er sich herum und starrte fragend und finster auf Eiskraut. Der schüttelte den Kopf. Ein nachdenkliches Flüstern sprang von Mund zu Mund. Turmfalke konnte einen Teil der Gespräche aufschnappen und wußte, worüber die Leute diskutierten. Stechapfel war viermal verheiratet gewesen und hatte nie ein Kind gezeugt. Vielleicht hatte sein Samen nun schließlich doch Wurzeln geschlagen. Das würde sein Ansehen ungemein steigern.
Ein Hoffnungsfunke stieg in Turmfalke auf. Es mochte sein, daß er das Kind als das seine anerkannte, selbst wenn er wußte, daß es nicht stimmte. Sie konzentrierte sich darauf, tief und gleichmäßig zu atmen. »Deine zwei Schwestern und deine Tante haben Zwillinge zur Welt gebracht, Stechapfel.
Deine Mutter hatte Zwillinge, die gleich nach der Geburt gestorben sind. Zwillingsgeburten sind typisch für deine Familie.«
Stechapfel ging um sie herum. Seine Augen glühten vor Wut. Die Worte herausschleudernd zischte er:
»Soll ich das verfluchte Balg aus deinem Schoß schneiden, um die Wahrheit herauszubekommen, Turmfalke?«
»Würdest du deine eigenen Söhne töten, mein Mann? Warte, bis sie geboren sind. Dann wirst du wissen, daß ich die Wahrheit sage.« Und ich werde Zeit haben, eine Fluchtmöglichkeit zu finden …
Eulenfrau hob den Kopf und sah Turmfalke mit verzweifelter Hoffnung an. Die anderen Frauen in der Menge begannen, sich aufgeregt zu unterhalten. Die Männer standen dabei und hörten aufmerksam zu.
Stechapfel kniff den Mund zusammen. »Die Wahrheit?« zischte er. »Ich kenne die Wahrheit schon.«
Er schritt über den nassen Boden, packte Eiskraut am Haar und stieß ihn auf Turmfalke zu. Eiskraut leistete keinen Widerstand. Er kam so dicht vor ihr zum Stehen, daß sie jede einzelne der winzigen Spiralen unterscheiden konnte, die die Ecken seines Medizinbeutels verzierten. Sie hatte Erlenrinde benutzt, um die rotbraune Farbe zu erzeugen. Mondelang hatte sie die zu Puder zerstoßene Rinde mit Eiskrauts Essen vermischt, um die Magenschmerzen zu lindern, die ihn so oft plagten. Turmfalke verstand sich darauf, andere Leute zu pflegen. Sie hatte gerade begonnen, sich einen Ruf als Heilerin zu erwerben. Den Schmerz eines anderen zu lindern linderte auch ihren eigenen.
Das gedämpfte Licht verlieh Eiskrauts hübschem Gesicht eine kränkliche Blässe. Turmfalke las Schmerz in seinen Augen und Sorge um sie. Aber noch mehr Sorge um sich selbst.
Nein, flüsterte sie ihm stumm zu, bitte.
»Erzähl es allen!« befahl Stechapfel. »Los, Eiskraut. Erzähl ihnen, daß du seit zwei Jahren bei meiner Frau liegst. Jedesmal wenn ich weggegangen bin, hast du dich in meine Hütte geschlichen und deinen Schwanz in sie hineingeschoben.«
Eiskrauts Lippen teilten sich, aber kein Wort kam heraus. Schließlich quetschte er hervor: »Ja.«
Ein Schluchzen zog Turmfalkes Kehle zusammen. Sie senkte den Kopf.
»Was?« schrie Stechapfel. »Sprich lauter, Eiskraut! Keiner kann dich hören. Sag es noch einmal!«
Die Menge war verstummt, so wie eine Bisonherde
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