Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
»Natürlich brauchten sie mich nicht. Mammut-Oben hört die Lieder und fühlt die Bewegungen des Tanzes, ob ich nun dabei bin oder nicht.«
Berufkraut blickte finster. »Wenn sie dich wirklich verurteilen, sind sie verrückt. Diese Leute im Strauchnuß-Dorf sind unsere Verwandten, unsere Vettern und Kusinen, unsere Tanten und Onkel. Wie hättest du die Kranken und die Sterbenden im Stich lassen können, nur um den Mammut-Geist-Tanz für uns zu leiten?« Wütend schlug er gegen einen Hartriegelast, und eine Kaskade weißer Blütenblätter wirbelte um sie herum zu Boden. Sonnenjäger schaute Berufkraut von der Seite an.
»Na ja, das macht mich wütend«, sagte Berufkraut. »Ich weiß, warum du dir Sorgen machst. Wärest du zum Tanz gekommen, hätte jemand dich verflucht, weil du seine Verwandten sterben läßt. Da du aber nicht gekommen bist, werden sie dich verfluchen, weil du den Tanz nicht für sie geleitet hast. Man hätte dich in jedem Fall verflucht, Sonnenjäger.«
Der Träumer lächelte und vertiefte sich für ein paar Sekunden in die Hirschspuren im Schlamm des Pfades. »Ich hatte nicht bemerkt, daß du erwachsen geworden bist, Berufkraut. Es ist gut, mit einem Mann sprechen zu können.«
Berufkraut fühlte, wie Stolz seine Brust schwellte. Ein breites Lächeln erschien auf seinem Gesicht, obwohl er versuchte, es durch Wegdrehen des Kopfes zu verbergen.
Ein Mann!
Sicher, er war vierzehn Sommer alt, aber weder hatte er sein erstes Mammut getötet noch an einem Kriegszug teilgenommen. So gesehen war er noch kein Mann, obwohl er sich als ein solcher fühlte. Es erregte ihn freudig, daß der Träumer ihn für einen Mann hielt.
Zögernd fragte Berufkraut: »Sonnenjäger, wie ist es, wenn man das Land der Toten besucht? Ich wollte dich immer fragen, aber ich … ich habe mich nicht getraut. Großvater sagt, es ist sehr dunkel.«
»O ja. Zuerst ist die Dunkelheit so tief und still, daß du das Gefühl hast, sie zerdrückt dir die Seele.
Doch dann hörst du Stimmen. Bekannte Stimmen, obwohl du sie nicht sofort erkennst. Sie rufen nach dir, und du hältst dich an dem Klang deines eigenen Namens fest, als wäre er das einzige, was dich davor rettet, dich selbst zu vergessen. Du konzentrierst dich darauf. Die Dunkelheit wandelt sich zu einem großen, weißen Licht, das dich verschluckt und emporträgt, hoch empor. Dann trittst du unter einen fremden Himmel und fällst in ein neues Land … Bäume und rote, so stark ausgezackte und gewundene Felsgrate, daß sie dich an das Gerippe längst ausgestorbener Ungeheuer erinnern - ein Land, das bei aller Schönheit Entsetzen hervorruft.«
Sonnenjägers Augen nahmen einen Glanz an, als sähe er diese Landschaft wieder vor sich liegen.
Verwundert betrachtete Berufkraut Sonnenjäger aus den Augenwinkeln, blieb aber still und ließ den Träumer sich erinnern.
Als Sonnenjäger seinen Schritt verlangsamte, übernahm Berufkraut die Führung den Pfad hinunter.
Balsam schob sich vorsichtig an dem Träumer vorbei, ehe er hinter Berufkraut herrannte, um ihn einzuholen. Er blickte wehmütig.
»Was ist los?« fragte Berufkraut mitfühlend.
Balsam schüttelte den Kopf. »Träumer - die sind alle unheimlich. So halb hier und halb woanders.«
Berufkraut grinste. »Deswegen werden sie Träumer genannt.«
14. KAPITEL
Turmfalke ließ Wolkenmädchen auf ihren Knien reiten. Sie war der Panik nahe, und es fiel ihr nichts anderes mehr ein. Das Baby war nachmittags nach dem Stillen quengelig geworden. Dann hatte es begonnen zu schreien und nicht wieder damit aufgehört. Turmfalke hatte ihr Nachtlager ziemlich früh in einem Eichengehölz am Rande eines kleinen Sees aufgeschlagen. Die mit frischen Knospen übersäten Äste warfen ein schwarzes Schattengewebe auf ihre eilig errichtete Hütte. Sie hatte kahle Äste aneinandergelehnt und dann mit Gestrüpp bedeckt. Die Unterkunft sah armselig und baufällig aus, aber sie würden dort trocken bleiben, falls es über Nacht regnen sollte. Das war alles, was Turmfalke interessierte. Am nächsten Morgen würden sie schon wieder unterwegs sein.
Auf dem See ließ sich eine Gruppe von Schwänen friedlich dahintreiben. Ihre wohltönenden Rufe erfüllten das Tal und bildeten die Hintergrundmusik zu Wolkenmädchens Geschrei. Überall in dem Gehölz sangen Vögel und hüpften von Ast zu Ast - Vögel mit roten, blauen und leuchtend grünen Federn, die Turmfalke nie zuvor gesehen hatte.
»O kleine Tochter, bitte, was ist denn los?«
Ihr Weg hatte
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