Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
Finsternis.
Sand blies ihr in die Augen, und sie hielt einen Arm vors Gesicht, um sich zu schützen. Die unheimlichen Blitze brannten sich weiter in den Himmel über ihr ein und zerbarsten in grelle Stränge ausgezackten Lichts, das in alle Richtungen explodierte.
Sternmuschel wollte vor Entsetzen aufschreien, aber der Sturm riß ihr die Laute von den Lippen. Sie stolperte unsicher vorwärts; irgendwo mußte es doch Schutz geben!
Doch wo ? Überall war nur verdorrtes Land. Aber dann entdeckte sie etwas, das sofort ihre Aufmerksamkeit fesselte.
Vor ihr schwebte etwas Weißes über dem felsigen Grund. Vor dem tiefschwarzen Himmel schien es zu glühen, als wäre es von einem unsichtbaren Lichtstrahl erhellt.
Sternmuschel eilte darauf zu, leise weinend, weil ihr die eckigen Steine in die Füße schnitten.
Unsicher ging sie Schritt für Schritt vorwärts, um dieses weiße Ding genauer zu untersuchen.
Was sie sah, erstaunte und verwirrte sie. Eine herrliche dünnwandige Keramikschale schwebte in der Luft. Sie hatte noch nie einen Gegenstand in solch vollkommener Verarbeitung gesehen - als hätte die Erdmutter selbst aus ihrer feinsten weißen Tonerde ein solch wundervolles Stück geformt. Niemals hätten die Hände eines Menschen ein derartig perfektes Gefäß formen können. Hatte ein Geistwesen die Schale erschaffen?
Der Wind legte sich, und in gespenstischer Stille ging Sternmuschel auf die Schale zu. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um hineinschauen zu können.
Sie stöhnte auf vor Entzücken und strich sich ihr langes schwarzes Haar aus dem Gesicht, um besser sehen zu können. Die Malerei auf der Innenseite der Schale war äußerst fein und von großer Detailgenauigkeit, und die Farben hatten eine überirdische Leuchtkraft. Und in dieser dünnen Keramikschale lag die ganze Welt.
Wasser schloß das Land von drei Seiten ein, im Osten, Süden und Westen. Auf der Nordseite sah sie weiße Schneefelder, die in grüne Senken übergingen. Massive Gebirge grenzten an dick vereiste Ebenen. Silberne Bächlein rannen aus saftig grünen Tälern und wanden sich, zu Flüssen anschwellend, ins Meer.
Der Schauplatz schien sich zu vergrößern, so daß sie winzige Einzelheiten in den Wäldern, Bächen und auf den Steppen erkennen konnte. Sie kam aus dem Staunen nicht heraus. Sie sah Tierherden, nahm den Geruch der üppigen Vegetation wahr und hörte das schwache Seufzen des Windes, der durch Blattwerk und über Gewässer strich.
Von den Tieren, die sie sah, kannte sie einige, andere hatte sie noch nie gesehen. Ungeheuer stapften übers Land, Hirsche, Füchse, Biber und Waschbären tummelten sich in den Wäldern. Das alles sah Sternmuschel mit großem Entzücken.
Währenddessen sah sie aber auch, daß das Eis im Norden schmolz. Verwundert stellte sie fest, daß ihr Standpunkt sich verschoben hatte. Ihr kam es plötzlich so vor, als wäre sie in die Schale hineingefallen, und würde von Luftströmungen ziellos über die Prärie getragen.
In der Ferne ragte, weiß schimmernd, das Eis empor. Der Wind trug ein Lied heran, das von menschlichen Stimmen gesungen wurde. Sternmuschel sah einen einsamen Wolf nach Süden fliehen; Jäger folgten seiner Spur.
Und die Jäger waren bald überall im Land, überquerten die Prärien, folgten den Pässen über die Gebirge. Vor hochwasserführenden Flüssen machten sie nur so lange halt, bis sie Flöße zusammengebunden hatten und ans anderen Ufer staken konnten.
Auf ihren Zügen erlegten sie die riesigen Tiere und ernährten sich von ihrem saftigen Fleisch. Immer mehr Menschen strömten ins Land, das sie jagend eroberten. Dabei nahm die Zahl der Tiere ständig ab. Sternmuschel beobachtete einen verstörten Mann an einem Strand im fernen Westen. Er mühte sich, ein Labyrinth in den Sand zu zeichnen, aber die Brandung zerstörte sein Werk immer wieder.
Heiße Winde wehten über das Land, und die großen Tiere verschwanden. Wüsten breiteten sich immer weiter aus, die Seen versandeten, und die Menschen sahen diesen Vorgängen mit Schrecken zu. In großer Höhe schwebend, sah Sternmuschel einen brennenden Berg, der ihr bekannt vorkam; an seinen Ausläufern tanzten Menschen.
Andere Menschen kamen aus dem Norden und kämpften mit den Völkern, auf die sie trafen. Im Schein eines Feuers saßen eine schöne Frau und ein verkrüppelter Mann, die ein Bündel in die Flammen warfen. In der Ferne war Donnergrollen zu hören.
Wie auf Adlerschwingen wurde Sternmuschel gen Osten getragen. Dort
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