Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
etwas, und du sagst ›Gar nichts«
Er starrte sie düster an und erwiderte: »Keine Panik! Sie ist gebannt. Im Wolfsfell. Wir haben sie zur rechten Zeit gefangen. Jetzt brauchen wir die Maske nur noch zum Brüllenden Wasser zu bringen, sie über den Rand zu werfen, und dann ist die Macht sich selbst überlassen.«
Aber das Gefühl der Bedrohung verließ Sternmuschel nicht. »Wieso mußte Muschelschale sterben?«
Langer Mann warf einen teilnahmsvollen Blick auf die Leiche der alten Frau. »Abendstern, meine arme alte Liebe.« Jetzt erfüllte ihn Trauer. »Du mußtest unbedingt in diese Augenhöhlen sehen, war es nicht so?«
»Und… was war dann? Was hat die Maske mit ihr gemacht?«
Er blickte zuerst Sternmuschel an und dann auf die Tote. »Sie war die schönste Frau, die je gelebt hat.
Du hättest sie sehen sollen, als sie jung war. Strahlend, verführerisch. Und jetzt, im Alter, hat sie die Maske angeschaut - nicht durch sie hindurch. Statt die Welt zu sehen, wie Bunte Krähe sie sehen würde, sah sie sich selbst wie in einem Spiegel.« Er machte eine Pause. »Es waren die Alpträume vom Altwerden, unter denen sie so sehr gelitten hat.«
Langer Mann packte das Wolfsfell mit der Maske wieder in die Stofftasche und schloß der toten Muschelschale die Augen. »Sie hat gesehen, was aus ihr geworden ist, Sternmuschel. Nicht, wie sie sich selbst geträumt hat, sondern so, wie sie wirklich war. Ihr Leben lang hat sie sich nicht gesehen, wie sie war. Was muß das für eine Erschütterung gewesen sein, sich in diesem Zustand zu sehen. Alt, häßlich … nun, manche Menschen können damit fertigwerden. Sie aber lebte ihr ganzes Leben hinter einer Art Maske, und in dieser Nacht sah sie dann diese Maske an.«
Sternmuschel schloß die Augen und drückte Silberwasser noch fester an sich, bis ihre Tochter klagte:
»Mama, du tust mir weh.«
»Oh, das tut mir leid, das tut mir leid, mein Liebes.« Sie strich ihr liebevoll übers Haar. »Und was hat meine Tochter gesehen?«
Langer Mann lächelte ihr beruhigend zu. »Sie ist ein Kind, Sternmuschel. Kinder sehen sich meistens, wie sie sind. Das ist der Segen des Jungseins.«
Sternmuschel runzelte die Stirn. Sie sah auf die tote Frau und schüttelte den Kopf. »Nein, Langer Mann. Was ist mit meiner Tochter geschehen? Das mußt du mir jetzt sagen!«
Sie schauten sich an, beide entschlossen, den anderen durch Willenskraft zum Nachgeben zu zwingen.
Dann antwortet er ihr offen: »Ich weiß es nicht, Sternmuschel.« Er fragte Silberwasser: »Hat die Maske etwas von dir verlangt? Daß du jemandem weh tust?«
Silberwasser schüttelte den Kopf und schmiegte sich an ihre Mutter. Sternmuschel drängte:
»Silberwasser?«
»Sie hat mir nur Geschichten erzählt, Mama. Über Menschen aus alter Zeit, als die Welt jung war. Das ist alles. Ich schwöre es.«
»Ich glaube dir, Liebes.« Tat sie das wirklich? Konnte sie ihr glauben? Sie zweifelte. »Langer Mann, ich verstehe das nicht. Viele Leute haben auf die Maske geschaut, als mein Mann sie trug. Er… sie starben nur, wenn er es wirklich wollte. Ich habe auf das verfluchte Ding geschaut, wenn er es trug, und sogar, wenn es nur auf dem Bett lag und zusah…« Sie versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. »Die Maske allein hat nie einen Menschen getötet. Nicht so, wie sie Muschelschale getötet hat.«
»Nein, das tat sie sicher nicht. In der Maske lebt die Macht; sie handelt allein aus sich heraus. Sie will nur ihre Ziele erreichen.«
»Du meinst, sie lebt?«
»Natürlich lebt sie. Wenn auch auf eine Weise, die du noch nicht verstehst. Sie hat weder Füße noch Hände; sie kann sich nicht bewegen. Sie braucht einen Menschen, der ihr hilft, ihre Ziele zu erreichen.
Ohne einen Träger ist die Maske verloren. Daher muß sie sich anstrengen, jemanden zu gewinnen, der als Brücke zwischen ihr und der Welt zu gebrauchen ist. Nur so kann die Macht wirksam werden.«
Langer Mann legte Holz nach, die Flammen warfen ihr Licht auf das schäbige Innere der Hütte von Muschelschale.
Sternmuschel versuchte, sich zu konzentrieren. »Wie kann das Wolfsfell die Macht der Maske bannen?«
»Der Wolf, Geisthelfer von Erster Mann, besitzt eine besondere Macht. Dieses Fell stammt nicht von einem gewöhnlichen Wolf, sondern von einem Geisttier. Es ist ein schwarzer Wolf mit glühenden gelben Augen, den ich aufspüren mußte. Vier Monde habe ich ihn gejagt. Als ich mich als würdig erwiesen hatte, da kam er zu mir und erlaubte mir, ihn wegen seines Fells
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