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Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen

Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen

Titel: Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen O'Neal Gear , W. Michael Gear
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zu töten.«
    »Du hast seit langer Zeit gewußt, daß du diese Reise machen wirst, ist es so?«
    Langer Mann nickte verlegen. »Wir alle übernehmen notgedrungen bestimmte Risiken, Sternmuschel.
    Die Macht legt ihren Standort fest. Wir Menschen müssen planen, um unsere Ziele zu erreichen, und dafür müssen die richtigen Leute ausgesucht werden.«
    Ausgesucht? Das Wort ließ sie erschauern.
    Warum mußte die Macht mich und meine kleine Tochter aussuchen?
    »Nun komm«, sagte Langer Mann sanft. »Hilf mir, den Körper meines Abendsterns zu versorgen.
    Jemand muß sich um ihren Geist kümmern, sie waschen und vorbereiten.«
    Sternmuschel nickte. Unsicher schaute sie zu Silberwasser. Die Geschehnisse der letzten Tage hatten den Erwachsenen einiges abverlangt, aber auch Silberwasser schien davon nicht unberührt geblieben zu sein; sie war älter geworden.
    Silberwasser kriecht hinter ein Gebüsch und späht durch das Gewirr kahler Zweige in die winterliche Welt. Sie ist so ängstlich, daß sie kaum Luft bekommt. Sie atmet flach und in schnellen Stößen, wie ein Kaninchen, das in der Falle sitzt. Wer sind all diese Leute? Die ersten kamen in der Dämmerung, jetzt sind es Dutzende. Nur Männer. Sie sind nicht zu sehen, aber sie spürt sie. Wenn der Wind die Äste bewegt, hört sie Stimmen, und hie und da erhascht sie einen Blick auf ein Gesicht in den zuckenden, windgeschüttelten Schatten. Sind sie zur Beisetzung von Muschelschale gekommen?
    Sternmuschel sieht, wie ihre Mutter und Langer Mann die Leiche von Muschelschale versorgen. Sie haben ihren nackten Leichnam auf eine rotblaue Decke gelegt und reiben die alte faltige Haut liebevoll mit Hickoryöl ein; dabei sprechen sie leise miteinander. Tränen laufen dem Zwerg übers Gesicht, aber seine Stimme ist fest, nur seine Augen sind voller Trauer. Er sieht die Männer nicht, die sich als flackernde Schatten um ihn drängen. Silberwasser dreht den Kopf, um besser hören zu können, sie bekommt aber nur Wortfetzen mit.
    »… so sehr geliebt«, hört sie Langer Mann sagen.
    Ihre Mutter nickt. »Nun braucht sie nicht mehr von ihren alten Liebhabern zu träumen. Bald wird sie…«
    »Ja«, erwidert Langer Mann. »Sie freut sich sicher schon darauf.«
    Das graue Haar von Muschelschale ist zu einem Knoten zusammengebunden und mit einer Kupfernadel festgesteckt. Die Nadel glänzt in dem winterlich weißen Sonnenlicht, das durch das Filigran der kahlen Äste strahlt. Dreiecke aus Licht sprenkeln den Waldboden, sie zucken und schimmern, als spielte der Wind mit ihnen, als zersplitterte er sie in zehnmal zehn winzige Bruchstücke, bevor er sie wieder freudig zusammensetzt.
    Silberwasser schaut in die Runde und fragt sich, ob das wohl diese Männer sind. Sind das alles Liebhaber von Muschelschale?
    Eine Bö fegt durch den Wald, und ein tiefes pulsierendes Ächzen windet sich durch die Bäume. Das müssen die Männer sein, die miteinander reden. Es ist ein Ächzen, das aus Schmerz und Sehnsucht erwächst. Silberwasser versucht, den Ton nachzuahmen, er schmeckt wie eine grüne Papaya auf der Zunge, sauer, aber schon Süße verheißend. Das tröstet Silberwasser. Vielleicht sagen die Männer zu Muschelschale, wie leid es ihnen tut, daß sie tot ist, und sie beschreiben ihr die Wunder des Lebens nach dem Tode, um sie aufzumuntern.
    Sie wünscht sich, sie gingen weiter und erzählten alles auch dem alten Hund. Das treue Tier liegt still an Muschelschales Seite, die weiße Schnauze ruht auf den Pfoten. Vorher hatte er Muschelschale bittend angeschaut, ihn nicht allein hier zurückzulassen. Den ganzen Tag hatte er seine großen traurigen Augen nicht von ihr abgewendet.
    Silberwasser fühlt den Schmerz des Hundes in ihrem Herzen. Es ist, als schaute man vom Grund eines eiskalten Sees hinauf und weiß, daß es unmöglich ist, jemals wieder nach oben zu schwimmen in die Sonne.
    Es wird Silberwasser wird heiß und kalt, der Schweiß bricht ihr aus. In der Tiefe ihrer Seele, aus einem geheimen Ort, greift die Hand ihres Vater durch ein grünes Glühen. Sie hört wütendes Atmen, Mokassins auf einem fellbedeckten Boden, und seine Finger sind heiß; kochendes Fett ergießt sich über sie, und sie ertrinkt.
    Ihre Beine werden kraftlos, und sie setzt sich zurück. Der geheime Ort verschwindet langsam, tiefer und tiefer kreisend, wie ein Falke, bis er nur noch ein winziger schwarzer Fleck auf ihrer hellen Seele ist. Ihr Mund ist ausgetrocknet. Sie nimmt eine Handvoll Schnee und kaut darauf. Es ist

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