Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
Dunkelheit gebiert Licht. Immer wieder, immer wieder, ohne Ende. Denke daran, Grüne Spinne, du kannst die Wahrheit nur finden, wenn du ihre Gegenseite betrachtest.
Jetzt zittere ich. Ich verstehe nichts. Ich weiß nur, daß ich fühle, wie mein Fleisch brennt, brennt…
Das Gesicht der Mondfrau leuchtete silbern durch den dünnen Wolkenschleier, der aus Nordwesten heranschwebte. Eine kleine Schar schwacher Sternenwesen schimmerte um sie herum, gerade hell genug, um neben ihrem perlmuttartigen Schein zu bestehen. Das fahle Licht ergoß sich über das Land, erleuchtete die Flußufer und die dort liegenden Kanus.
Ein einsamer Mann, hochgewachsen und kräftig, blickte über den mächtigen Fluß. Ein Winterhemd hing ihm bis auf die Waden, lederne Leggings wärmten ihm die Beine, und an den Füßen trug er Mokassins. Über seinen Schultern hing ein Umhang aus Fuchspelz - selbst für diese kalte Jahreszeit zu warm.
Seine Leute, der Weißmuschelclan, nannten ihn Otter. Aber flußauf- und flußabwärts war er auch unter dem Namen Wasserfuchs bekannt. Gab es einen schmeichelhafteren Namen für einen Händler?
Wellen tanzten auf der schwarzen Oberfläche des Flusses, getrieben vom Wind. Das Laub der Bäume auf den fernen Anhöhen im Osten ähnelte im fahlen Mondlicht einem taubengrauen Fell.
Otters Aufmerksamkeit galt dem Fluß, dem Gegenstand seiner Besessenheit. Sein Leben hatte sich durch den aufwühlenden Geist von Vater Wasser verändert. In dieser Nacht aller Nächte hatte er das Ausmaß der Macht des Flusses über seine Seele kennengelernt.
Er beugte sich nieder und berührte mit den Fingerspitzen ehrfürchtig das Wasser. Der breite Fluß war schwarz und bedrohlich, als er aber seinen Blick zum Kanal schweifen ließ, tanzten kleine silberne Mondlichter über den Wellen. Er spürte die starke Strömung des Flusses, der nach Süden zum Meer eilte.
Merkst du es? Merkst du, wie der Fluß ruft? Mächtig und einladend, wie die sanfte Berührung einer Frau, wie… Alles führte zu den Frauen, war es nicht so? Für ihn aber führte alles nur zu einer Frau, zu Rote Mokassins.
Otter atmete tief die berauschende Mischung von Gerüchen ein, den Bisamgeruch des Wassers, den Geruch des Sandschlamms und den stechenden des Brackwassers. Otter kannte sich mit den stillen Sümpfen aus, mit den Geistern des alten Flußkanals, mit dem unbewegten Wasser voller Eisstückchen.
In Otters Nähe störte ein nächtlicher Raubvogel die Enten, die aufgeregt schnatterten. Im Dunkeln glitt die Eule auf lautlosen Flügeln vorbei und ließ ihren Ruf hören. Ein Fisch peitschte das Wasser - auf der Jagd nach Beute oder selbst ein Gejagter.
Der Nachtwind brachte Vorboten eines nahenden Sturms. Otter spürte die Luft aus dem Norden und erschauerte in ihrer Kälte.
Eine Kälte, die der Kälte in meiner Seele spottet. Er steckte seine Hand tiefer ins eisige Wasser.
Die nächtliche Brise trug schwaches Gelächter heran. Otter schaute nach Westen und konnte dort die Häuser des Riesenschilfclans sehen - von dort kam das Gelächter.
Der Riesenschilfclan feierte nun schon vier Tage und Nächte mit Singen und Tanzen, Essen und Trinken, Geschichtenerzählen und Geschenken. Diese Hochzeit war eine glückliche Verbindung zwischen dem Weißmuschelclan und dem Riesenschilfclan. Die beiden Clans waren nun miteinander verknüpft, als hätte diese Hochzeit aus zwei Völkern eines gemacht.
Die Clans, deren Territorien sich auf beiden Seiten des Flusses gegenüberlagen, waren vor langer Zeit Feinde gewesen. Am Anfang hatte der Weißmuschelclan sein Clanhaus und seinen Grabhügel auf den östlichen Uferfelsen mit Sicht über den Fluß erbaut. Das Haus des Riesenschilfclans mit seinem Erdwall war erst errichtet worden, als der Clan flußabwärts gezogen war. Sie hatten sich einen Siedlungsplatz auf einer Anhöhe des Westufers erwählt. Krieger der Weißmuscheln hatten sich aufgemacht, um die Eindringlinge aus ihrem Gebiet zu vertreiben. Der Riesenschilfclan war aber entschlossen, sich am neuen Ort zu behaupten. Irgendwann, in der Zeit der Großmütter, hatte die Fehde schließlich mit einer Heirat geendet.
Otter war dem Fest bei der ersten besten Gelegenheit entflohen. Er brauchte Zeit, um in der Einsamkeit seinen Schmerz zu lindern. So inbrünstig hatte er sie geliebt, so leidenschaftlich. Hier konnte er nun auf die Reste seiner Liebe zurückblicken.
Wie oft war er den Weg zu dieser Siedlung gegangen? Verzauberte Wege waren es gewesen, denn er wußte, daß
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