Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
sie wartete und die Vorfreude in ihren Augen leuchtete.
Alles vorbei.
Lodernde Feuer färbten die schilfgedeckten Dächer und die Wände des Clanhauses honiggelb. Das Licht tanzte und flackerte, wie es der Brise gefiel.
Die Menschen in den Dörfern im Tal nahmen die furchterregenden Veränderungen in der Welt draußen gar nicht wahr. Otter aber wußte Bescheid. Die Zahl der Kanus, die durch das Land der Clans gefahren waren, hatte sich im Vergleich zum letzten Jahr ums Hundertfache erhöht. Junge Männer wie er wollten Geschäfte machen, denn der Bedarf an Waren ober- und unterhalb des Tals wuchs ständig.
Wir befinden uns jetzt in einem Zeitalter der Bündnisse - und das heißt, in einem Zeitalter großer Gefahren.
Er wandte sich wieder dem bewegten schwarzen Wasser zu. Selbst jetzt im tiefsten Winter wisperte der Fluß, rief ihn und zerrte an seiner Seele, so wie er an den Sandbänken nagte.
»Otter?« Die sanfte Stimme überraschte ihn, und er fuhr herum. Da stand sein Zwillingsbruder im fahlen Mondlicht wie ein Gespenst. Viertöter sah in seinem Hochzeitsgewand sehr elegant aus. Ein kupferner Haarschmuck war an dem dicken Haarknoten in seinem Nacken befestigt. Sein Brustschmuck bestand aus Schichten von Knochen und Muschelperlen; das opalfarbene Mondlicht gab seinem fein geschnittenen Gesicht einen rassigen Ausdruck.
Otter sagte: »Entschuldige, Bruder, du hast mich erschreckt. Wegen des Windes habe ich dich nicht kommen hören.« Unsicher wischte Otter die nassen Fingerspitzen an seinem Fuchsmantel ab und blickte sehnsüchtig zurück auf das Wasser.
Er hätte eigentlich nicht überrascht zu sein brauchen. Viertöter hatte gewußt, daß sein Bruder herkommen würde. Ihre Seelen hatten sehr viel gemeinsam. So gleich sie sich waren, so verschiedenartig waren sie auch, aber das hatte Vater Wasser schon vor langer Zeit entschieden. Vielleicht hatte die längst vergangene Nacht auf dem Fluß zu diesem Treffen geführt. Ein Mensch wußte nichts vom Wirken der Macht, aber er spürte sie. Sie warfen ihn hierhin oder dorthin, wie einen Stock, den man in die Strömung wirft.
Viertöter kam den Hang hinunter zu Otter und schaute mit ihm über den Fluß. Er sah nur den dunklen Uferfelsen auf der anderen Seite, auf dem sich das Haus des Weißmuschelclans und die Erdhügel befanden. Für Viertöter war der Clan Mittelpunkt seines Lebens, dazu kamen seine Verpflichtungen gegenüber Großmutter. Für Otter dagegen war der Fluß Mittelpunkt, er war der Ort der Seele.
»Ich habe gefühlt, wie verletzt du bist«, sagte Viertöter sanft.
Otter legte einen Arm um seinen Bruder. »Was willst du tun? Die Heirat widerrufen? Den Clans die Stirn bieten? Dein Leben ruinieren, dein Glück - und ihres - aufs Spiel setzen?«
Viertöter schwieg und versuchte bei diesem Licht in Otters Augen zu blicken. »Wenn du es verlangst.«
Otter faßte seinen Bruder auf die Schulter. Das Herz wurde ihm warm. »Ja, das würdest du tun. Das würdest du tatsächlich tun. Weißt du, für einen Mann, der so klug ist wie du, kannst du manchmal ein richtiger Narr sein.«
»Ich möchte dich um nichts in der Welt verletzen. Großmutter sagte mir, daß Rote Mokassins um mich gebeten hat. Ich konnte nicht schlafen und war hin- und hergerissen zwischen Seligkeit und Vorahnung. Voller Angst dachte ich daran, was du dazu sagen, was du davon halten würdest. Ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte, Otter. Kannst du das verstehen?«
»Ich verstehe dich sehr gut, Bruder. Unter Zwillingen ist das so.« Otter spürte das Ziehen an seiner Seele; der Fluß rief ihn und erinnerte ihn an ferne Länder und andere Völker.
Er widerstand der Lockung und fügte hinzu: »Aber du solltest auch wissen, daß sie dich liebt. Ich habe es in ihren Augen gesehen … das merkwürdige Schuldgefühl und den Schmerz, wenn sie mich anschaute, und die unbezwingbare Sehnsucht, wenn sie dich ansah.«
»Aber Otter, sie …«
»Warte! Ich bin noch nicht fertig. Hör zu, Bruder. Geh zu ihr und liebe sie. Hab Kinder mit ihr. Du bist der Mann, den sie braucht, der Mann, auf den man in den Ratsversammlungen hört. Ein aufrechter Mann, der die Veränderungen in der Welt versteht. Das Volk hier braucht dich. Sie braucht dich.«
Viertöter nickte niedergeschlagen. »Ja, ich weiß: Pflicht, Verantwortung, Ehre. Aber was ist mit uns, Otter, mit dir und mir? Den Gedanken, dich zu verlieren, kann ich nicht ertragen.«
Otter zwang seinen Bruder, seinem Blick zu begegnen. »Von Verlieren
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