Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
Norden reisen. Aber vielleicht war das am besten. Junge Männer wurden verrückt, wenn die Frau, die sie liebten, einen anderen heiratete. Besser war, ihn wegzuschicken, denn zwischen Rote Mokassins und Viertöter würde er vielleicht nur Unruhe stiften.
Mehrere Wochenreisen südlich befanden sich vier schlanke Kriegskanus auf der Fahrt flußaufwärts.
Kräftige Arme schwangen die Paddel in nördlicher Richtung, fort von den kristallblauen Gewässern des Golfs und den warmen Winden. Diese Männer - viermal zehn - waren ohne Zweifel Krieger der Khota, im ganzen Norden gefürchtet. Sie waren tätowiert, hatten viele Narben und trugen ihre Haare in straff gebundenen Knoten, und ihre Augen starrten düster auf den Fluß. Im Leitkanu saß eine einsame Frau, in eine Decke gehüllt.
Von ihrem Bugsitz aus betrachtete Perle völlig gleichgültig das ruhige Wasser. Heute war sie jedenfalls glücklich, denn der Wind hatte nachgelassen.
Als sie versuchte, die Veränderung zu begreifen, die sie plötzlich aus ihrer vertrauten Welt gerissen hatte, erkannte sie das ungeheuerliche Ausmaß dessen, was ihr zugestoßen war. Es war besser, einfach teilnahmslos dazusitzen und die winterliche Landschaft vorbeigleiten zu lassen.
Ja, und so zu tun, als durchlebte man nur einen sonderbaren Traum. Dann würde das Leben wieder werden, wie es war.
Perle hatte gelernt, vor den Gesängen der Khotakrieger, zu denen sie rhythmisch die Paddel eintauchten, ihre Ohren zu verschließen. Die Paddel hoben und senkten sich, pausenlos, und mit jedem Paddelschlag schoß das Kanu flußaufwärts, brachte sie einer Zukunft entgegen, die sie sich kaum vorstellen konnte.
Vielleicht würde alles doch nicht so schlimm werden. Schon früher hatten Frauen den Erdteil kreuz und quer bereist und waren glücklich geworden mit Ehe und Familie. Was sie beunruhigte, mußte Heimweh sein. Sonst nichts.
In ihren Adern floß das Blut der Anhinga, des Schlangenhalsvogelclans. Durch die Heirat mit dem Anführer der Khota, Wolf der Toten, würde sie ihrem Clan Wohlstand und eine Blütezeit sichern.
Sie hob den Kopf. Eine Anhinga war sie. Stolz, stark, listig, eine Jägerin. Dieses Wissen war ihr eingeimpft worden, und sie war davon durchdrungen. In ferner Vergangenheit hatte sich Anhinga, der Schlangenhalsvogel, mit einer schönen Frau des Menschengeschlechts vermählt, und aus ihrem Schoß war das Volk entstanden, das später der Anhingaclan werden sollte.
Ihr Volk hatte sich immer die Verhaltensweisen seines Ahnen, des Schlangenhalsvogels, zu eigen gemacht. So jagten die Jäger mit sägeförmigen Speerspitzen, ähnlich dem Schnabel des Vogels. Wie der Vogel seine Flügel zur Sonne ausbreitete, so breiteten auch die Anhinga ihre Arme zur erneuernden Wärme der Sonne aus. Der Anhingaclan kontrollierte die Mündung des Großen Flusses, den die nördlichen Völker Vater Wasser nannten.
Ich bin eine Anhinga. Ich muß diesen Khota zeigen, was es bedeutet, daß in meinen Adern das Blut des Schlangenhalsvogels pulsiert. Dieser Gedanke tat ihr gut. Der Glaube an Legenden gab den Menschen Kraft.
Als siebte Tochter in einem Clan mit mütterlicher Abstammungslinie hätte sie eigentlich das Recht gehabt, sich ihren Ehemann auszusuchen. Doch ihr Schicksal war besiegelt gewesen, als die Khota in ihrem Dorf landeten. Trotz ihrer kriegerischen Erscheinung behaupteten sie, Händler aus dem Norden zu sein. Aber das Wichtigste war, daß sie mit Ladungen von Kupferplatten, Glimmerblättchen und Grünsteinfaustkeilen kamen.
Die jungen Khota wollten Muschelschalen, Marginelliden-Schneckenhäuschen für Halsketten, Haifischzähne und Rochenstachel haben - Güter, die im Norden hohen Wert besaßen.
Der Tauschhandel hatte Tage gedauert. Wegen der Sprachschwierigkeiten, aber auch wegen Großvaters Neigung, lange und ausgiebig zu feilschen.
Perle hatte die Aufmerksamkeit eines der jungen Männer erregt, der offensichtlich ihr Anführer war.
Er hatte auf sie gedeutet und den restlichen Kupfervorrat vorgeholt, einige Ohrspulen, einen Kopfschmuck und ein paar Armbänder. Die Khota fügten dem noch Beile aus geschliffenem Stein hinzu und zeigten an, daß sie ein Geschäft machen wollten.
Perle konnte das Interesse der Männer verstehen. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht, das von langen schwarzen, im Sonnenlicht bläulich schimmernden Haaren eingerahmt wurde. Mit ihren achtzehn Sommern war sie eine ausgewachsene, geschmeidige Frau. Sie nahm die Bewunderung in den Augen der Männer wahr,
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