Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
es mühelos und kletterte auf der anderen Seite wieder hinauf. Die Gerüche von nassem Stein und Erde vermischten sich zu einem stark riechenden Duft.
Doch kurz bevor sie oben ankam, hatte sie ein unheimliches Gefühl. Sie ging langsamer und blieb vor dem Grabenrand schwer atmend stehen. Einzelne Mondlichtstrahlen durchbrachen die Wolken und warfen seltsame Schatten. Einer, den sie anstarrte, glich einem lauernden Ungetüm, und sie hätte schwören können, daß es übergroße und leere Augenhöhlen besaß, die nun starr auf sie gerichtet waren. Doch es bewegte sich nicht.
»Du bist doch schon fast zu Hause«, sprach sie tadelnd zu sich selbst. »Sei nicht so dumm.« Sie ging weiter hinauf. Oben betrat sie, unsicher um sich schauend, die glitschige Ebene, einige Bogenschüsse von Kesselstadt entfernt. Im Licht der Blitze sah sie die Säulen vor sich stehen wie häßliche ungefüge Zähne in einem teuflischen Grinsen.
In der Ferne leuchtete Krallenstadt. Fackeln erhellten die Plaza und warfen einen flackernden bernsteinfarbenen Schein über die weißen Wände und die Großen Krieger. Sie hielten den Kopf hoch und spähten wachsam hinaus in die Nacht. Wolkenspiel lächelte und -Da war eine Bewegung. So stark überfiel sie das Gefühl eines Alptraums, daß sie die Welt einen Augenblick lang aus den Augen verlor.
Eine Stimme fragte aus dem Schatten heraus: »Wer - wer bist du ?« »Ich bin Wolkenspiel, Tochter von -« »Wolkenspiel? Du bist Wolkenspiel?«
»Ja! Und wer bist du? Was machst du hier? Warum drückst du dich hier im Schatten herum?« Ein Mann stand auf, Brust und Arme schwarz bemalt und fast unsichtbar. Als er auf sie zutrat, erkannte sie die Farben seiner Maske: Rot, Blau und Gelb. Eine der heiligen Thlatsina-Masken! Nur wenige hatten das Recht, sie zu berühren.
Wolkenspiel trat zurück, ihre Nerven schwirrten. »Bist du ein Priester? Hier draußen, um den Vollmond mit Gebeten zu huldigen? Wie heißt du?«
»Du… du bist wirklich Wolkenspiel?« »Ja, wie ich gesagt habe.«
»Ach«, sagte er mit gepreßter Stimme. »O nein. Ich habe gebetet, daß du nicht herkommst. Warum bist du hier?«
Sie streifte sich ihr pralles Bündel ab, in das sie ihre Sachen und die ihrer Mutter hineingezwängt hatte, und hielt es wie einen Schild vor sich. Die vier auf der Vorderseite aufgemalten schwarzen Spiralen schimmerten dunkel. »Ich bin die Tochter von Nachtsonne, der Ehrwürdigen Mutter von Krallenstadt! Mein Vater ist Krähenbart, unsere Gesegnete Sonne. Ich bin auf dem Weg nach Hause. Du wirst mich jetzt vorbeilassen!«
Er breitete gespenstische schwarze Arme aus wie ein Vogel, der abheben will, und sprang auf sie zu. Er zog dabei die Knie hoch, in widernatürlicher Nachahmung eines Adlers, der auf dem Erdboden jagt.
»Weißt du nicht, wer ich bin?« schrie Wolkenspiel. »Hör auf! Laß mich in Ruhe!« Sie schwang ihr Bündel mit aller Kraft gegen ihn; es traf seine Schulter, und er taumelte zur Seite.
Mit großen Sprüngen lief sie zum Pfad in die Senke des Rechten Wegs zurück und die gegenüberliegende Seite hinauf. Sie hörte keine Schritte hinter sich und wagte es, über die Schulter zurückzublicken; nichts war zu sehen. Überhaupt nichts. Ein Mondstrahl streifte kurz über die Senke und schattierte jede Unebenheit.
Der Schreck legte ihr eine Schlinge um den Hals. Sie hielt an und rang nach Fassung. Mit schräggelegtem Kopf lauschte sie angestrengt auf Atemgeräusche und sorgsam gesetzte Schritte. War es vielleicht nur ein unanständiger Scherz gewesen?
»Aber das macht nichts. Jedenfalls gehe ich nicht mehr auf diesem Pfad zurück.« Und sobald ich kann, werde ich den Kriegshäuptling Eisenholz benachrichtigen lassen, und er wird seine Krieger aussenden, jede Handbreit dieser Gegend zu durchstreifen, bis sie den Schuldigen finden und herbeibringen.
Sie schaute nach Westen. Wenn sie im Graben weiterlief, käme sie sicher bald zum Einschnitt, den die Sklaven benutzen, um Wasser zu holen und Wäsche zu waschen. Eine Frau ihres Ranges, die einen Sklavenpfad benutzte -, das würde bestimmt für Klatsch sorgen, aber das war immer noch besser als die schwarze Erscheinung.
Sie warf ihr Bündel über die linke Schulter und ging wachsam weiter, hielt sich an die tiefen Schatten unter dem vorspringenden Uferhang. Rings um sie herum blinzelten goldene Eulenaugen. Die Vögel machten sich Löcher in den Hang und lebten dort, bis das Schmelzwasser im Frühling ihre Heime zerstörte und die Reste
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